Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi

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hatte. Er untersuchte die Hand, erklärte, sie sei nicht ausgerenkt, und ließ sich mit größtem Vergnügen in ein Gespräch mit dem berühmten Sergei Iwanowitsch Kosnüschew ein; um dabei seine aufgeklärten Anschauungen zum Ausdruck zu bringen, erzählte er ihm alle möglichen Klatschgeschichten aus dem Kreise und führte bittere Klage über die schlechten Zustände in der Verwaltung auf dem Lande. Sergei Iwanowitsch hörte ihm aufmerksam zu und stellte seinerseits manche Fragen; angeregt dadurch, daß er einmal einen neuen Zuhörer hatte, wurde auch er gesprächig, machte einige scharf betonte, gewichtige Bemerkungen, die der junge Arzt mit achtungsvoller Wertschätzung aufnahm, und geriet so in jene, seinem Bruder wohlbekannte, angeregte Stimmung, die sich bei ihm gewöhnlich nach einem lebhaften, geistsprühenden Gespräche einstellte. Nachdem der Arzt wieder weggefahren war, bekam Sergei Iwanowitsch Lust, nach dem Flusse zu fahren, um dort zu angeln. Er angelte gern und war gewissermaßen stolz darauf, daß er es fertigbrachte, an einer so stumpfsinnigen Beschäftigung Geschmack zu finden.

      Konstantin Ljewin, der zum Pflügen und auf die Wiesen mußte, erbot sich, den Bruder mit dem Einspänner hinzubringen.

      Es war die Zeit des Jahres, wo der Sommer auf seiner Höhe ist: wo die Getreideernte des laufenden Jahres sich bereits veranschlagen läßt; wo die Sorgen um die Aussaat für das künftige Jahr beginnen und die Heuernte heranrückt; wo der Roggen schon ganz in Ähren steht und graugrün mit seinen noch leichten, nicht vollen Ähren im Winde wogt; wo der grüne Hafer, mit den dazwischen verstreuten gelben Grasbüscheln, ungleichmäßig auf den Spätsaaten herauskommt; wo der frühe Buchweizen schon aufblüht und den Erdboden verdeckt; wo die vom Vieh steinhart gestampften Brachfelder zur Hälfte umgepflügt sind, mit Auslassung der Wege, in deren Erdboden der Hakenpflug nicht eindringt; wo die ausgefahrenen, schon etwas angetrockneten Düngerhaufen bei Sonnenuntergang ihren Geruch mit dem des Wiesenklees vereinen und in den Niederungen, der Sense harrend, wie ein zusammenhängendes Meer die wohlbehüteten Wiesen daliegen, mit den schwärzlichen Haufen von ausgejäteten Sauerampferstauden darin.

      Es war die Zeit, da in der Feldarbeit vor Beginn der alljährlich sich wiederholenden und alljährlich alle Kräfte der Landbevölkerung in Anspruch nehmenden Ernte eine kurze Ruhepause eintritt. Das Getreide stand prächtig, und es waren nun die hellen, warmen Sommertage mit den taureichen, kurzen Nächten gekommen.

      Die Brüder mußten durch einen Wald fahren, um zu den Wiesen zu gelangen. Voll Bewunderung betrachtete Sergei Iwanowitsch die ganze Zeit hindurch die Schönheit des dichtbelaubten Waldes: bald zeigte er seinem Bruder eine alte Linde, die auf der Schattenseite ganz dunkel, nur mit lauter gelben Nebenblättchen gesprenkelt, aussah und nahe daran war, aufzublühen, bald die wie Smaragd glänzenden jungen, heurigen Schößlinge an den Bäumen. Konstantin Ljewin sprach nicht gern über die Schönheit der Natur und hörte nicht gern darüber sprechen. Die Worte beeinträchtigten nach seinem Gefühle die Schönheit dessen, was er sah. Er sagte zu allem, was sein Bruder sprach, ja, begann aber unwillkürlich an andere Dinge zu denken. Als sie aus dem Walde herauskamen, wurde seine ganze Aufmerksamkeit durch den Anblick des sich einen Hügel hinaufziehenden Brachfeldes in Anspruch genommen, das stellenweise mit gelbem Grase bestanden, stellenweise umgeworfen und schachbrettartig zerschnitten, stellenweise mit Düngerhaufen besetzt und stellenweise auch schon geackert war. Über das Feld hin fuhr eine lange Reihe von Fuhren. Ljewin zählte die Wagen und sah mit Befriedigung, daß die nötige Menge angefahren wurde. Beim Anblick der Wiesen gingen seine Gedanken dann zur Frage der Heuernte über. Die Heuernte hatte für ihn immer etwas, was sein Herz besonders nahe anging. Als sie bei der Wiese angelangt waren, hielt Ljewin das Pferd an.

      Der Morgentau lag noch reichlich im tieferen Grunde des Grases, und daher bat Sergei Iwanowitsch, um sich nicht die Füße naß zu machen, seinen Bruder, ihn im Einspänner über die Wiese nach dem Weidengebüsch hinzufahren, wo viele Barsche vorhanden zu sein pflegten. So leid es auch Konstantin Ljewin war, sein Gras zu zerdrücken, so fuhr er doch in die Wiese hinein. Das hohe Gras wickelte sich weich um die Räder des Wagens und um die Füße des Pferdes und ließ seinen Samen an den nassen Speichen der Räder und an den Fesseln des Pferdes zurück.

      Der Bruder setzte sich unter einen Busch und brachte seine Angeln in Ordnung; Ljewin aber führte das Pferd beiseite, band es an und ging in das von keinem Windhauch bewegte, gewaltige, graugrüne Meer der Wiese hinein. Das seidige Gras mit dem reifenden Samen reichte ihm in dieser Gegend, die durch das jährliche Austreten des Flusses bewässert wurde, fast bis zum Gürtel.

      Nachdem er die Wiese quer durchschritten hatte, trat er wieder auf den Weg hinaus und begegnete dort einem alten Manne mit einem verschwollenen Auge, der einen Korb mit einem Bienenschwarm trug.

      »Nun, hast du wieder einen neuen Schwarm gefangen, Fomitsch?« fragte er.

      »Gott bewahre, Konstantin Dmitrijewitsch! Man kann froh sein, wenn man nur die eigenen behält. Da, dieser Schwarm hier ist mir schon zum zweitenmal davongegangen ... Ein Glück noch, daß die Kinder ihm nachgerannt sind und ihn eingeholt haben. Bei uns wird gerade gepflügt. Da haben sie ein Pferd ausgespannt und sind ihm nachgejagt ...«

      »Nun, was meinst du, Fomitsch? Sollen wir mähen, oder sollen wir noch warten?«

      »Na ja, nach unserer Regel muß man bis zum Peterstag warten. Aber Sie lassen ja immer schon früher mähen. Na, so Gott will, wird es eine schöne Heuernte werden. Das Vieh wird die Hülle und Fülle haben.«

      »Aber wie denkst du über das Wetter?«

      »Das steht in Gottes Hand. Vielleicht wird auch das Wetter gut bleiben.«

      Ljewin ging wieder zu seinem Bruder.

      Dieser hatte noch nichts gefangen; aber er langweilte sich nicht und schien in heiterster Stimmung zu sein. Ljewin sah, daß er, durch das Gespräch mit dem Arzte angeregt, Lust hatte, ein bißchen zu reden. Ljewin hingegen wollte möglichst schnell nach Hause zurück, um das Erforderliche wegen der Beschaffung von Mähern für den nächsten Tag anzuordnen und so seinem Zweifel über die Heuernte, der ihn stark beschäftigte, ein Ende zu machen.

      »Nun, komm, dann wollen wir wieder fahren!« sagte er.

      »Wozu sollen wir denn so eilen?« erwiderte jener. »Laß uns doch noch ein Weilchen sitzen! Aber was bist du naß geworden! Wenn ich auch nichts fange, es ist doch schön. Jede Art von Jagd hat das Gute, daß man dabei mit der Natur in innige Berührung kommt. Sieh nur, wie wunderhübsch dieses stahlgraue Wasser ist! Diese Wiesenufer«, fuhr er fort, »erinnern mich immer an ein Rätsel – besinnst du dich? Das Gras spricht zum Wasser: ›Wir und schwanken ...‹«

      »Ich kenne das Rätsel nicht«, antwortete Ljewin in gedrücktem Tone.

      3

      »Weißt du, ich habe eben an dich gedacht«, hob Sergei Iwanowitsch von neuem an. »Nach den Erzählungen dieses Arztes zu urteilen, muß es ja bei euch hier im Kreise ganz toll zugehen; und er ist ein ganz intelligenter junger Mensch. Ich habe es dir schon früher einmal gesagt und wiederhole es dir: es ist nicht gut, daß du die Versammlungen nicht mehr besuchst und dich überhaupt von der ganzen Kreisverwaltung zurückgezogen hast. Wenn sich die anständigen Leute davon fernhalten, dann wird natürlich alles Gott weiß was für einen Verlauf nehmen. Wir bezahlen eine ganze Masse Geld; aber das geht für die Gehälter drauf, und von Schulen, Heilgehilfen, Hebammen, Apotheken ist keine Rede; nichts davon ist vorhanden.«

      »Ich habe es ja versucht«, antwortete Ljewin leise und widerwillig. »Aber ich kann es nicht. Was soll ich da machen!«

      »Aber was kannst du denn nicht? Ich muß gestehen, daß ich das nicht begreife. Gleichgültigkeit oder Verständnislosigkeit sind ja doch bei dir ausgeschlossen; ist es wirklich nur Trägheit von dir?«

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