Erinnerungen aus galanter Zeit. Giacomo Casanova
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»Aber werde ich Sie nicht inkommodieren?«
»Nein; aber deine Mutter könnte böse werden, wenn sie dazu käme.«
»Sie wird nichts Böses denken.«
»Komm also. Aber weißt du auch, welcher Gefahr du dich aussetzest.«
»Gewiß; aber Sie sind artig und was mehr sagen will, Abbé.«
»Komm also; aber vorher schließe die Tür.«
»Nein, nein, denn man könnte wer weiß was denken.«
Endlich legte sie sich an meine Seite, schwatzte fortwährend, ohne daß ich verstand, was sie sagte; denn da das sonderbare Mädchen meine Wünsche nicht erhören wollte, so hatte ich das Ansehen des unbehilflichsten Menschen. Die Sorglosigkeit dieses Mädchens, welche sicherlich nicht erkünstelt war, imponierte mir so sehr, daß ich mich geschämt haben würde, ihr Vertrauen zu täuschen. Sie sagte endlich, es hätte zehn Uhr geschlagen, und wenn der alte Graf Antonio käme und uns in der Lage fände, würde er Späße machen, die ihr unangenehm wären.
»Wenn ich diesen Mann nur sehe«, sagte sie, »so laufe ich davon.«
Hierauf verließ sie ihren Platz und entfernte sich. Ich blieb lange unbeweglich auf derselben Stelle liegen in stumpfsinniger Betäubung und dem Sturme meiner aufgeregten Sinne und meiner Gedanken preisgegeben. Da ich am folgenden Tage meine Ruhe behalten wollte, so ließ ich sie auf meinem Bette sitzen, und die Reden, zu welchen ich sie veranlaßte, überzeugten mich endlich, daß sie mit Recht der Abgott ihrer Eltern sei und daß die Freiheit ihres Geistes und ihr unbefangenes Benehmen nur aus ihrer Unschuld und Seelenreinheit entspringe. Ihre Naivität, ihre Lebendigkeit, ihre Neugierde und die Schamröte, welche ihr schönes Gesicht überzog, wenn die komischen Sachen, die sie sagte und bei denen sie sich nichts Böses dachte, mich zum Lachen brachten: alles dies zeigte mir, daß sie ein Engel, der unfehlbar die Beute des ersten besten Lüstlings, der sie verführen wolle, werden würde. Ich fühlte mich stark genug, um mir keine Vorwürfe gegen sie machen zu dürfen. Schon der bloße Gedanke daran ließ mich schaudern, und meine Eigenliebe verbürgte Lucias Ehre ihren guten Eltern, deren gute Meinung von meiner Sittlichkeit sie mir anvertraute. Es kam mir vor, als ob ich mich in meinen eigenen Augen verächtlich machen müßte, wenn ich das in mich gesetzte Vertrauen täuschen wollte. Ich beschloß also, mich zu beherrschen, und da ich sicher war, immer den Sieg zu behaupten, begann ich den Kampf gegen mich selbst und betrachtete ihre bloße Gegenwart als den Lohn meiner Anstrengungen. Ich kannte noch nicht den Satz, daß, solange der Kampf dauere, der Sieg ungewiß sei. Der Instinkt gab mir ein, zu sagen, sie würde mir einen Gefallen tun, wenn sie am folgenden Tage früher kommen und mich sogar wecken wollte, wenn ich noch schlafen sollte, und um meiner Bitte mehr Nachdruck zu geben, fügte ich hinzu: je weniger ich schlafe, desto besser ich mich befände; ich fand hierin das Mittel, unsre Unterhaltungen statt zwei Stunden drei dauern zu lassen, obwohl dieser Kunstgriff nicht hindern konnte, daß die Zeit wie ein Blitz entfloh. Ihre Mutter kam zuweilen dazu, während wir schwatzten, und wenn diese gute Frau sie auf meinem Bette sitzen sah, so glaubte sie ihr nichts mehr sagen zu dürfen, sondern begnügte sich, meine Güte zu bewundern. Lucia gab ihr hundert Küsse, und die gute Frau bat mich, sie in allem Guten zu unterweisen und an der Bildung ihres Geistes zu arbeiten; wenn sie sich entfernt hatte, betrachtete Lucia sich nicht als freier und behielt ohne alle Veränderung den alten Ton bei. Die Gesellschaft dieses Engels verursachte mir die grausamsten Qualen, während sie mir zugleich das größte Entzücken bereitete. Oft, wenn ihre Wangen nur zwei Finger breit von meinem Munde entfernt waren, bemächtigte sich meiner der Wunsch, sie mit Küssen zu bedecken, und mein Blut entflammte sich, wenn ich sie sagen hörte, sie hätte meine Schwester sein mögen. Aber ich besaß Zurückhaltung genug, um die geringste Berührung zu vermeiden, denn ich fühlte, daß ein einziger Kuß der Funke gewesen sein würde, der das ganze Gebäude in die Luft gesprengt hätte. Wenn sie weggegangen staunte ich, daß ich den Sieg hatte davontragen können, aber nach neuen Lorbeeren verlangend, sah ich seufzend dem folgenden Tage entgegen, um diesen süßen und gefährlichen Kampf zu erneuern. Die kleinen Wünsche sind es besonders, welche einen jungen Mann kühn machen; die großen zehren seine Kraft auf und halten ihn in Schranken. Da ich mich nach zehn oder zwölf Tagen in die Notwendigkeit versetzt sah, entweder mit der Sache ein Ende zu machen oder Verbrecher zu werden, so entschloß ich mich um so eher für das erste, als ich des Erfolgs im andern Falle keineswegs sicher war; denn Lucia wäre, wenn ich sie genötigt hätte, sich zu verteidigen, eine Heldin geworden, und da die Zimmertür offen war, so hätte ich Schande und nutzlose Reue zu fürchten gehabt, und diese Idee erschreckte mich. Aber ich konnte nicht länger einer Schönheit widerstehen, welche mit Tagesanbruch und kaum bekleidet fröhlichen Mutes an mein Bett kam, mich fragte, ob ich gut geschlafen, sich vertraulich meinem Gesichte näherte und gewissermaßen ihre Worte auf meine Lippen legte. In einem so gefährlichen Augenblicke wendete ich den Kopf ab, und sie warf mir mit ihrem unschuldigen Tone vor, daß ich Furcht habe, während sie sich durchaus sicher fühle, und wenn ich ihr lächerlicherweise antwortete, sie habe unrecht, zu glauben, daß ich ein Kind fürchten könne, so entgegnete sie, der Unterschied von zwei Jahren habe nichts zu bedeuten. Da ich dies nicht mehr aushalten konnte, und da das Feuer, welches mich verzehrte, sich immer heftiger entflammte, so beschloß ich, sie zu bitten, mich nicht mehr zu besuchen, und dieser Entschluß schien mir großartig und von unfehlbarer Wirkung; da ich aber die Ausführung auf den folgenden Tag verschob, so verbrachte ich eine schwer zu beschreibende Nacht; bestürmt vom Bilde Lucias wie von der Idee, daß ich sie am nächsten Tage zum letzten Male sehen würde.