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Seismische Messungen kamen zu dem Ergebnis, dass sich unter dem Grund des Sees eine Schicht aus sehr dichtem Gestein verbirgt. Luca Gasperini und sein Team von der Universität Bologna schlossen daraus, dass es sich beim Tscheko-See nur um den bisher vergeblich gesuchten Impaktbeweis handeln konnte. Ihre These war einleuchtend: Nicht einer, sondern zwei Brocken waren hier niedergegangen. Der erste verglühte vor dem Aufschlag in der Luft, der zweite, kleinere, schlug auf und bildete den kraterförmigen See. Die Lösung des Rätsels war gefunden!

      Doch sie hielt weiteren Forschungen nicht lange stand. Ein paar Jahre später untersuchten russische Wissenschaftler erneut die Sedimente am Grund des Sees. Geochemische Analysen ergaben, dass die entnommenen Proben mindestens zweihundertachtzig Jahre alt waren. Mitarbeiter des Instituts für Geologie und Mineralogie konnten kurz darauf mittels Radioskopie das Ergebnis ihrer Kollegen bestätigen.

      Und warum war der See dann auf keiner Karte verzeichnet? Das sei nicht weiter verwunderlich, erklärten die Forscher aus Krasnojarsk. Wegen der riesigen Ausdehnung dieses Gebietes sei seine kartografische Erfassung immer mangelhaft gewesen, und an dem Umstand, dass ein kleiner See nicht auf alten Landkarten zu sehen war, sei nichts Ungewöhnliches.

      Also wieder nichts. Der Tscheko-See verlor sein Mysterium, es blieb ihm nur seine Schönheit.

      Mein Lieblingsirrtum der letzten Jahrzehnte stammt ebenfalls von italienischen Wissenschaftlern. Ein Team mit dem Namen Opera verkündete 2011 Messergebnisse, die beweisen sollten, dass sich manche Neutrinos schneller als das Licht bewegten. Die Forscher hatten diese Teilchen über sechs Monate hinweg beobachtet und immer wieder sei es zur Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit gekommen. Die Partikel legten eine siebenhundert Kilometer lange Strecke zwischen dem CERN und dem italienischen Labor Gran Sasso in einem Tempo zurück, das 0,025 Promille über der Geschwindigkeitsgrenze des Universums lag. Gemäß der Relativitätstheorie war das jedoch unmöglich: Nichts kann in einem Vakuum schneller fliegen als das Licht. Die Sensation war perfekt! Das Jahrhundertgenie Einstein war widerlegt!

      Fünf Monate später wandten sich die Opera-Mitarbeiter wieder an die Öffentlichkeit. Dieses Mal jedoch mit leiseren Tönen. Es seien „zwei mögliche Effekte identifiziert worden, welche die Messungen beeinflusst haben könnten.“ Ein GPS-Gerät und ein defektes Glasfaserkabel hätten zu einer „Überschätzung der Geschwindigkeit“ geführt. Die Experimente müssten wiederholt werden.

      Diese Mitteilung führte in der Welt der Naturwissenschaften zu allerlei launigen Kommentaren. Das Wort Promille in der Veröffentlichung von 2011 wurde dabei nicht immer wohlmeinend interpretiert. Auf einer Karikatur sah man Männer in weißen Kitteln, mit Weingläsern in der Hand, ein wenig schwankend über ein Kabel gebeugt. Mein Gott, so schnell!, ruft einer von ihnen.

      Seit damals erwartet niemand mehr bahnbrechende Nachrichten aus Gran Sasso. Ich hingegen vertraue auf die Findigkeit des kühnen Opera-Teams und halte die Daumen für neue Enthüllungen, die das Gefüge der physikalischen Sicherheiten zu erschüttern vermögen, und sei es auch nur für ein paar Monate.

      SECHS

      Bei der Zugfahrt nach Linz am folgenden Tag blätterte ich das Dossier noch einmal durch. Doch ich war unkonzentriert, mein Blick rutschte ab und blieb auf meinen ungeputzten Schuhen hängen. Mit einem Papiertaschentuch beseitigte ich die gröbsten Schmutzreste.

      Vom Bahnhof zum Landesgericht nahm ich die Straßenbahn. Die Landstraße war von Menschenmassen verstopft, als stünde Weihnachten kurz bevor. Am Taubenmarkt stieg ich aus und spazierte den Graben entlang in die Museumstraße. Auf einem hässlichen dreigeschossigen Gebäude fand ich die Aufschrift Landesgericht Linz Staatsanwaltschaft Linz. Die Fenster der oberen Stockwerke wurden von dreieckigen Giebeln gekrönt, vom Dach bis zu den Torbögen verliefen abgeflachte Wandpfeiler. Es war genau die Art von Klassizismus, die mich stets einschüchterte und Fluchtreflexe in mir auslöste. Möglicherweise lag es aber auch nur daran, dass mir mein Auftrag, je näher ich dem Gebäude kam, desto idiotischer erschien. Warum um alles in der Welt hatte ich mich darauf eingelassen?

      Blick auf die Uhr: Ich war zu früh. Also machte ich kehrt, überquerte die Straße und ging in den Park des Landesmuseums, das dem Gericht gegenüberlag. Hier fühlte ich mich schon wohler, obwohl auch dieser Bau nicht gerade ein architektonisches Glanzstück war. Doch auf der ungemähten Wiese zwischen den Bänken blühte es wild blau und rot durcheinander, das Summen der Bienen erfüllte die Luft und es roch nach den Frühlingsausflügen meiner Kindheit.

      Ich wollte mich setzen, da sah ich das Schild auf der Rückenlehne. Nur für Artgerechte stand da. Einen Augenblick lang war ich entsetzt: Sollte die oberösterreichische Politik tatsächlich schon so – dann begriff ich und atmete auf. Ein Kunstprojekt, natürlich. Andere Banklehnen trugen die Aufschriften Nur für Alleinerzogene oder For German Speaking Only. Wo solche Schilder stehen, dachte ich, da lass dich ruhig nieder.

      Mitten im Park stand eine Bronzeplastik, ein Monolith mit kleinen runden Aussparungen, durch die man auf die üppig wuchernden Büsche dahinter blicken konnte. Ihr Titel gefiel mir – Große Weltlochwand. Ich verband ihn sofort mit dem Krater, den so viele Forscher vergeblich gesucht hatten: Das große Weltloch in der sibirischen Einöde.

      Weshalb ich so oft auf die Uhr schaute, weiß ich nicht. Es gab keinen Grund zur Nervosität. Was sollte mir schon passieren? Wenn das Gespräch unerfreulich verlaufen sollte, hätte ich wenigstens einen Grund, aus Herberts Aufdeckungsprojekt wieder auszusteigen.

      Um fünf vor drei erhob ich mich und ging ein paar Schritte zum Haupteingang des Museums. Auf einer Säule entdeckte ich unter dem Hinweis Kulturdenkmal eine aufgesprühte Warhol-Banane. Mit Sunday Morning im Ohr verließ ich den Park und beschloss, Linz von nun an sympathisch zu finden.

      Es war exakt 15 Uhr, als Frau Dr. Eva Mattusch aus dem Gebäude trat. Ich hielt mich zurück, stürzte nicht gleich auf sie los, um ja nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich ihr Gesicht schon gegoogelt hatte. Mein Blick schweifte herum, blieb manchmal kurz an ihr hängen, schweifte weiter. Tatsächlich sah sie nicht so aus wie auf ihren Bildern im Netz. Von Business-Kostüm keine Spur. Sie trug eine nicht mehr ganz neue Jeansjacke, die Haare hatte sie sich mit einem orangefarbenen Tuch nach hinten gebunden, dessen lose Enden ihr über den Rücken fielen. Auch die weißen Turnschuhe, sicher ebenfalls keine Neuerwerbung, überraschten mich. Sie kam auf mich zu, streckte mir die Hand entgegen und sagte fröhlich: „Ich denke, Sie suchen mich. Georg Hollaus, nicht wahr?“

      Ich schüttelte ihre Hand und nickte.

      Mit einem Mal begann sie zu lachen und fächerte sich dabei mit den Fingern Luft zu wie ein junges Mädchen.

      „Verzeihen Sie bitte“, sagte sie, nachdem der Heiterkeitsanfall abgeebbt war, „aber ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.“

      „Wie denn?“ Blitzschnell blickte ich nach unten und scannte meine Kleidung. Grafitfarbener Anzug, hellblaues Hemd, passende Krawatte. So ungefähr sollte man doch aussehen, wenn man eine Anwältin traf, oder?

      „Na ja“, gluckste sie, „nicht so … so seriös.“

      „Warum nicht?“

      Jetzt hatte sie sich wieder gefangen. „Sie sind doch der Tunguska-Mann, oder nicht?“

      Ich spürte, wie eine mir vertraute Wut nach oben stieg und eine sanfte Röte sich auf meine Wangen legte.

      „Ich weiß nicht, ob mir diese Bezeichnung gefällt.“

      Eva nahm meinen Arm und zog mich vom Eingang des Landesgerichts weg.

      „Kommen

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