Lipstick Traces. Greil Marcus
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WIE RICHMAN
ihn schließlich aufnahm, war »Roadrunner« der simpelste und der merkwürdigste Song der Welt. Richman trat um 1970 in Erscheinung, wie jemand, der einem nie und nimmer auffiele, wenn er nicht zufällig auf der Bühne stünde und einen zum Zuschauen brächte; er griff traditionelle Themen auf (Autos, Mädchen, das Radio), aber mit Anklängen eines aktuellen alltäglichen Realismus, der das Traditionelle seltsam erscheinen ließ. Er sang darüber, wie man an einem Bankschalter Schlange stand und sich in die Kassiererin verliebte (oder vielleicht tat sie einem nur leid, man versuchte zu entscheiden, ob man lieber die Kassiererin wäre oder derjenige, der darauf wartete, dass sie aufschaute und nicht sah, wen sie ansah). Er sang darüber, dass er Hippies hasste, weil sie Einstellungen wie Sonnenbrillen trugen, so komplett in ihrer Selbstgefälligkeit, so komplett, dass sie nie irgendwas bemerkten, weil sie sich von allem lossagten, was an der modernen Welt gut und lebendig und wunderbar war.
Ganz normal klang Richmans Musik nicht. Als ich 1972 zu einem seiner Konzerte ging, war seine Band – die Modern Lovers, so nennt er alle seine Bands – schon auf der Bühne; nichts geschah. Aus irgendeinem Grund fiel mir ein untersetzter kurzhaariger Bursche auf, der sich durch das spärliche Publikum schob, in Blue jeans und einem weißen T-Shirt, auf dem mit Bleistift die Worte geschrieben standen: »I LOVE MY LIFE«. Dann kletterte er auf die Bühne und spielte die erschütterndste Gitarre, die ich je gehört hatte. »Ich glaube, das ist großartig«, sagte einer neben mir. »Oder ist es schrecklich?»
»Ich fing erst an zu singen und zu spielen, als ich fünfzehn war und die Velvet Underground hörte«, sagte Richman Jahre später. »Sie schufen eine Atmosphäre, und damals wusste ich, dass mir das auch gelingen könnte!« Er bekam Unterstützung: Richman unterschrieb bei Warner Bros., die als Produzenten John Cale unter Vertrag genommen hatten, und Cale bekam den Auftrag, Jonathan Richman zu produzieren – Adam ging mit Gott ins Studio.
Das von ihnen hergestellte Album wurde nicht veröffentlicht, und die Band löste sich auf. »Roadrunner« war nur ein Gerücht, bis Richman 1975 ein paar Modern Lovers in Berkeley versammelte und den Song ein letztes Mal aufnahm; das Stück erblickte auf einem ansonsten belanglosen Sampler lokaler Bands das Licht der Welt, und von dem Augenblick an war es ein Klassiker. Nichts hätte bescheidener sein können: am Anfang lediglich Bass, Snare Drum und Gitarrengeschrammel, was sich wie das Stimmen der Instrumente auf einer Platte von Sun Records aus dem Jahr 1954, kombiniert mit einem Velvet-Underground-Demo von 1967, anhörte. Wie Rod Stewarts »Every Picture Tells a Story« – ein Ausbruch, den größten Teil seiner sieben Minuten nicht mehr als Drums, Bass und akustische Gitarre – erzählte »Roadrunner«, die Kraft des Rock ’n’ Roll liege einzig in seinen Sprüngen von einem Augenblick zum nächsten, in den unmöglichen Übergängen.
»One, two, three, four, five, six.« One-two / One-two-three-four lautet der traditionelle Rock-Anfang; 1976 und 1977, als Punk loslegte, wurde ein trockenes »One-two-three-four« zum Punk-Markenzeichen. Dass Punk das einleitende »One-two« ablehnte, bedeutete, dass Punk bereit war, jedes Vorgeplänkel, jede Geschichte über Bord zu werfen; wenn Richman »five-six« hinzufügte, bedeutete es, dass er noch nicht soweit war, dass er tief durchatmete, sich auf eine Attacke vorbereitete, wie sie noch keiner durchgeführt hatte.
»Roadrunner, roadrunner / Going faster miles an hour / Gonna drive by the Stop ’n’ Shop / With the radio on.« Vor Freude, ein Halbwüchsiger, der an der Erinnerung an den vergangenen Tag fast erstickte, machte sich Richman daran, den Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen. Er fuhr zwar am Stop ’n’ Shop vorbei, doch um ganz sicherzugehen, ging er zuerst am Stop ’n’ Shop vorbei, wobei er zu dem Schluss kam, dass er viel lieber am Stop ’n’ Shop vorbeifuhr, als am Stop ’n’ Shop vorbeizugehen, weil er ersteres mit eingeschaltetem Radio tun konnte.
Von jetzt an verfiel Richman in Entzücken, dann in Träumereien. Er fühlte sich »in touch with the modern world«; er fühlte sich »in love with the modern world«. Er fühlte sich »like a roadrunner«. Er verließ Boston in Richtung Route 128; alles war möglich. Er machte das Radio an und hörte 1956; »It was patient in the bushes, next to ’57!»
Die Band legte James-Brown-mäßig los, dann nahm sich Richman zurück wie Jerry Lee Lewis in der Mitte von »Whole Lotta Shakin’ Goin’ On«; die zuerst geschriene Botschaft wurde nun geflüstert, nachdenklich, unheimlich. Er fuhr auf der Route 128. Es war kalt, dunkel, er roch die Fichten, er hörte sie, als er mit eingeschaltetem Radio vorbeibrauste, erhaschte einen Blick auf sogar noch kälteres Neon – die moderne Welt, nach der er suchte. Die Band machte wieder Dampf, und Richman unterhielt sich mit ihr über das, was er sah. »Now, what do you think about that, you guys?« »RADIO ON«, antworteten sie ihm, und genau das wollte er hören. »Good! We got the AM …« »RADIO ON«, rief die Band. »I think we got the power, got the magic now …« »RADIO ON.« »We got the feelin’ of the modern world …« »RADIO ON.« »We got the feelin’ of the modern sound …« »RADIO ON.«
Richman atmete noch einmal tief durch … und immer, wenn ich mir die Aufnahme anhöre, lächele ich bei dem, was nun kommt. Jede Formulierung des Songs, die vorher kam, die denkbar konventionellste Wiedergabe einer Erfahrung, die Millionen von Menschen in irgendeiner traumhaften pubertären Nacht gemacht haben, wird zerhackt und neu geschaffen. Jede Formulierung wird auf einzelne Worte reduziert, jedes Wort aus seiner Formulierung gepellt, Strophe und Refrain zu einer schamanistischen Beschwörung zerhackt, der intakt gelassene Refrain kämpft, um mit dem unbegreiflichen Rhythmus des Verseschmieds zurande zu kommen, was ihm irgendwie gelingt, auch wenn die Wörter inzwischen kaum mehr Wörter sind, nur noch Reklametafeln, die so schnell vorbeihuschen, dass man sie nicht lesen kann. Plötzlich wird mehr Dampf gemacht:
The sound, of the modern radio, feelin’ when it’s late RADIO ON at night we got the sound of the modern lonely when it’s cold outside RADIO ON got the sound of Massachusetts when it’s blue and white RADIO ON cause out on Route 128 on the dark and lonely RADIO ON I feel alone in the cold and lonely RADIO ON I feel uh I feel alone in the cold and lonely RADIO ON I feel uh feel alone in the cold and neon RADIO ON I feel alive I feel a love I feel alive RADIO ON I feel a rockin’ modern love I feel I feel a rockin’ modern life RADIO ON I feel a rockin’ modern neon sound modern Boston town RADIO ON a modern sound modern neon modern miles around RADIO ON I say a roadrunner once a roadrunner twice RADIO ON ah ah very nice roadrunner gonna go home now yea RADIO ON roadrunner go home oh yes roadrunner go home –
Durch einen reinen Gewaltakt reduziert er das Tempo. Die Rückkehr zu einer konventionellen Rockmelodie markiert das gewaltsame Erwachen aus einem Traum: »Here we go, now / We’re gonna drive him home, you guys / Here we go –« Und die Band haut wieder auf den Putz, zweimal drei Mal, zweimal vier Mal:
That’s right!
Again!
Bye Bye!
DIE SEX PISTOLS
kamen nicht so weit. Johnny Rotten hastete durch das Stück, als wäre es ein Schlagloch, das seiner Mutter den