Lipstick Traces. Greil Marcus
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»JOHNNY B. GOODE«
hatte den besten Anfang im Rock ’n’ Roll, doch den konnten die Sex Pistols nicht spielen. »Roadrunner« hatte den besten Schluss, und den brauchten die Sex Pistols nicht zu spielen – sie mussten ihn bloß verschlucken. Was Jonathan Richman mit Worten machte, machten die Sex Pistols mit dem Sound.
In dem vorgegebenen Rhythmus entdeckten sie eine zerstörerische Dynamik, die alle Erwartungen sprengte und alles, was vorher war, sei es »Heroin« der Velvet Underground von 1967, »No Fun« von den Stooges (1969), das 1974 veröffentlichte »Human Being« der New York Dolls, sogar Captain Beefhearts Album Trout Mask Replica aus dem Jahr 1969, sogar »Roadrunner«, rational erscheinen ließ: geplant und ausgeführt. Der Sound der Sex Pistols war irrational; als Sound schien er total unsinnig zu sein, schien gar nichts zu tun, außer zu zerstören, deshalb war es ja ein neuer Sound und zog einen Trennungsstrich zwischen sich und allem, was vorher war, genau wie es Elvis Presley 1954 und die Beatles 1963 getan hatten, auch wenn nichts leichter (oder unmöglicher) schien, als diese Striche mit einem Wust von Fußnoten auszuradieren.
Für eine Menge Leute – Fans von Chuck Berry, den Beatles, James Taylor, den Velvet Underground, Led Zeppelin, den Who, Rod Stewart oder den Rolling Stones – war Punk gar keine Musik, nicht einmal Rock ’n’ Roll; für eine kleinere Zahl von Leuten war es das Aufregendste, was sie je gehört hatten. »Es war die erste Kostprobe von Rock-’n’-Roll-Spannung, die ich erlebte«, sagte Paul Westerberg von den Replacements 1986… auch zehn Jahre später war sie es noch wert, dass man von ihr berichtete. »Die Sex Pistols gaben dir das Gefühl, sie zu kennen, und dass sie nicht über dir standen. Von dem, was sie taten, hatten sie offenbar keine Ahnung, aber das war ihnen egal. Ich war Jahre vor ihnen ein viel besserer Gitarrist. Ich saß da und lernte die Tonleitern, die ganze Chose. Ich eignete mir sämtliche Slide-Soli von der Allman-Brothers-Platte At Fillmore East an. Ich legte die Scheibe auf und stellte den Plattenspieler auf sechzehn Umdrehungen, damit ich die Soli transponieren konnte. Aber dann kamen die Sex Pistols und sagten: ›Du brauchst gar nix. Spiel’s einfach.‹« Und was Westerberg sagte, sagten auch ungezählte andere; sie beschrieben, was sie nun spielen durften und was sie nun hören durften.
Das Musikbusiness war nicht vernichtet worden. Die Gesellschaft brach nicht zusammen, es entstand keine neue Welt. Wenn, wie Dave Marsh schrieb, der Punk »ein Versuch war, die Hierarchie zu eliminieren, die den Rock beherrschte – und letztlich die Hierarchie zu eliminieren, Punkt«, so gelang ihm keins von beiden. Man konnte immer noch das Radio einschalten und sicher sein, auf den meisten Sendern »Behind Blue Eyes«, »Stairway to Heaven« und »Maggie May« zu hören; da der Rundfunk vom Punk Richtung Vergangenheit gedrängt wurde, hörte man solche Songs häufiger als vorher. Doch im Laufe der nächsten paar Jahre nahmen weit mehr als fünfzehntausend Gruppen Platten auf. Sie ließen es drauf ankommen, ob sich irgendwer dafür interessieren würde, wie sie klangen oder was sie zu sagen hatten, ob sie sich selbst dafür interessierten. Einige waren auf Ruhm und Geld aus; einige wollten vor allem eine Chance, sich zu äußern, oder wenigstens die Welt verändern.
Winzige unabhängige Plattenfirmen, die meisten nicht mehr als ein Postfach und ein getippter Briefkopf, schossen wie Pilze aus dem Boden. »Auf einmal konnten wir alles machen«, steht in den Liner Notes von Streets, der ersten Sammlung britischer Punk-Singles. Es war eine Welle neuer Stimmen, wie es sie in der Geopolitik der populären Kultur noch nie gegeben hatte – eine Flut von Stimmen, die eine Zeit lang sogar eine merkwürdige Floskel wie »Geopolitik der populären Kultur« ganz natürlich klingen ließ.
»ONE CHORD WONDERS«
von der Gruppe The Adverts findet genau am Rande des Punk-Augenblicks statt. Die Sex Pistols haben den Boden bereitet … verbrannte Erde hinterlassen. Nichts ist übrig geblieben, aber die Stadt steht, als wäre nichts geschehen, mitten in der Stadt ein Streifen qualmender Dreck, mitten darin ein Pfahl mit einem Stück beschriebener Pappe, das genauso gut ein »Zu-vermieten«-Schild wie eine Abrissankündigung sein könnte; man weiß nicht, ob »STRASSE FREI« oder »WEGEN BRAND ZU VERKAUFEN« draufsteht.
Die diese leere Fläche umkreisenden Menschen wissen nicht, was sie als Nächstes tun sollen. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen; alles, worüber sie zu reden pflegten, klingt bis zur Dümmlichkeit parodiert, sobald die alten Wörter ihren Mündern entfahren. Ihre Münder sind voller Galle: Die Leute werden in die Leere gezogen, halten sich aber zurück. »Was ist Nihilismus? Rosanow beantwortet die Frage am besten«, schrieb der Situationist Raoul Vaneigem 1967 in Traité de savoir-vivre à l’usage des jeunes générations (auf deutsch zehn Jahre später als Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen erschienen): »›Die Vorstellung ist beendet. Das Publikum erhebt sich. Es ist Zeit, den Mantel überzuziehen und nach Hause zu gehen. Der Besucher dreht sich um: kein Mantel mehr und kein Zuhause.‹« Da waren sie angelangt.
Ein Mädchen und drei Jungen machen die ersten Schritte. Sie betreten das geschwärzte Terrain wie Zweijährige, die man auf vertrautem Beton am Rande einer Wiese absetzt … ob es wohl weh tun wird? Als sie unter ihren Füßen das zarte Gras spüren, laufen sie los, und beim Laufen nimmt ein doppelter Wachtraum von ihnen Besitz: Die Menge lächelt verkrampft und schließt sich ihnen an; sie zuckt zurück und steinigt die vier zu Tode.
So eine Chance kommt nur einmal im Leben. Die vier schnappen sich das hölzerne Schild, brechen es in Stücke und schlagen aufeinander ein; sie erzeugen einen geschlossenen, kanalisierten Lärm. Dieser Lärm denkt an keine Zuhörer, hat nur Verbindung zu sich selbst: Er ist erst zufällig, dann konzentriert, erst hilflos, dann grausam. Dass die vier nicht miteinander Schritt halten können, lässt die Zeit so schnell laufen, dass sie stehenzubleiben scheint: stop. Diesem Moment kann keiner entkommen, also hämmern die vier den gemeinsamen Traum heraus, von dem sie besessen waren, als sie sich kennenlernten, vor Urzeiten. Die Musik zerrt an sich selbst, die ersten zwei, drei Zeilen jeder Strophe gewalttätig, zynisch, gegenwärtig, die nächsten beiden forttreibend in eine Sekundenbruchteile anhaltende Träumerei aus Zweifel, Bedauern, ein Gefühl von ergriffenen und verpassten Gelegenheiten, die Zukunft bereits Vergangenheit. Nur der Schwung der Musik hält das Ganze zusammen.
I wonder what we’ll play for you tonight
Something heavy, something light
Something
To set your soul alight
I wonder how we’ll answer when you say
WE DON’T LIKE YOU! GO AWAY!
Come back
When you’ve learned to play
I wonder what we’ll do when things go wrong
When we’re halfway
Through our favourite song
We look up
And the audience is gone
»THE WONDERS DON’T CARE!« schreien drei Gruppenmitglieder, »We don’t give a damn!« erwidert das vierte, und so geht es weiter, zehn-, zwanzigmal, hin und her, aber was die Strophen angeht, widerspricht der Doppelrefrain sich selbst: Die drei Sänger hart und bestimmt, ihr Gesang variiert nie in der Tonlage oder Geschwindigkeit, die einzelne Stimme zunächst auch hart, dann traurig, dann verzweifelt, dann verlässt sie den Rhythmus, während die andere Seite des Refrains in geschlossener Reihe weitermarschiert – die Solostimme wird lauter, schraubt sich fast aus der Musik, entdeckt in dem dröhnenden Rhythmus Andeutungen einer Melodie, lässt die Melodie fallen und wird zu einem aus der Tiefe des Körpers kommenden