Lipstick Traces. Greil Marcus

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Lipstick Traces - Greil Marcus

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in London Solidaritätsdemonstrationen mitorganisiert und später T-Shirts mit aufgedruckten Mai-68-Slogans verkauft, auch wenn »ICH HALTE MEINE SEHNSÜCHTE FÜR REALITÄT, WEIL ICH AN DIE REALITÄT MEINER SEHNSÜCHTE GLAUBE«, der Wahlspruch einer winzigen Studentenclique, der Enragés, die den Aufstand begannen, in dem Laden lediglich verklemmte Geschäftsleute ermutigen sollte, McLarens Gummianzüge zu kaufen. McLaren verkaufte alles; Ende 1978, als der ehemalige Sex Pistols-Bassist Sid Vicious wegen Mordes an seiner Freundin Nancy Spungen verhaftet worden war, warf McLaren Sid Vicious-T-Shirts mit der Aufschrift »I’M ALIVE – SHE’S DEAD – I’M YOURS« auf den Markt (angeblich, um Geld für Vicious’ Verteidigung aufzutreiben). Doch kurz zuvor war er noch mit Exemplaren von Christopher Grays Leaving the 20th Century herumgelaufen, der ersten englischsprachigen Anthologie situationistischer Schriften, an deren Veröffentlichung er und Jamie Reid 1974 beteiligt gewesen waren.

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      Amerikanische Variante von Malcolm McLarens Laden

      Er versuchte, andere zum Lesen des Buches zu bewegen. »Es ist wenig mehr als eine moderne Interpretation marxistischer Essays über entfremdete Arbeit«, sagte Peter Urban, Manager der Dils, einer Punkband aus Los Angeles, die »auf Klassenkampf stand« (der Haupterfolg ihrer ersten Single, »I Hate the Rich«, bestand darin, dass die rivalisierende Gruppe Vom ein »I Hate the Dils« betiteltes Stück herausbrachte). »Damit hat es auch zu tun«, meinte McLaren, »aber es ist sehr, sehr intensiv. Das Gute daran waren die vielen Parolen, die man übernehmen konnte, ohne irgendeiner Bewegung anzugehören. Einer Bewegung anzugehören erstickt oft kreatives Denken sowie, von der Warte eines Jugendlichen aus gesehen, die Fähigkeit, sich selbst auszudrücken … Das Größte an dem Buch ist, dass es dir das erlaubt. Es enthält eine gewisse erregende Aggression und Arroganz …« Ein alter Hut, sagte Urban und schenkte McLarens interessanten Folgerungen ebenso wenig Beachtung wie einem Sticker auf dem Buchumschlag, den ein Zitat aus einer Rezension John Bergers zierte: »… eine der hellsichtigsten und ehrlichsten politischen Aussagen der sechziger Jahre«. »Verlorene Propheten« war Bergers Besprechung überschrieben; wäre der Rest auch noch irgendwie auf den Sticker gequetscht worden, hätte er das Gespräch noch weiter auf Abwege oder mehr auf den Punkt bringen können.

      Das Gespräch erschien 1978 in der Mai-Ausgabe von Slash, einem Punk-Magazin aus L.A. Die Nummer, besagte ein Hinweis auf der Seite mit dem Inhaltsverzeichnis, war »der Handvoll enragés (französisch für Irre, Fanatiker oder Wahnsinnige) gewidmet, die vor zehn Jahren versuchten, das Leben zu verändern«. Zu der Widmung gehörte die Illustration »une jeunesse que l’avenir inquiète trop souvent« (eine zu oft von der Zukunft beunruhigte Jugend), ein ehemals berühmtes Poster des 68er Kunststudentenkollektivs Atelier populaire; es zeigte eine junge Frau, den Kopf mit Verbandmull umwickelt und die Lippen von einer Sicherheitsnadel durchbohrt. Zehn Jahre später, den Mai 68 hatte man in den USA fast vergessen, war das ein wahrhaft archäologisches Unterfangen, eine merkwürdige Rückkehr in seltsame Zeiten, als scheinbar belanglose Störungen auf einem am Stadtrand von Paris gelegenen Universitätsgelände eine Kettenreaktion von Verweigerungen ausgelöst hatten; als zunächst Studenten, dann Fabrikarbeiter, dann Angestellte, Professoren, Krankenschwestern, Ärzte, Sportler, Busfahrer und Künstler die Arbeit verweigerten, auf die Straßen gingen, Barrikaden bauten und die Polizei bekämpften oder an ihre Arbeit zurückkehrten, ihre Gewerkschaften bekämpften, ihre Arbeitsplätze besetzten und in Brutstätten der Diskussion und Kritik verwandelten, als in Paris ausgefallene Parolen von den Mauern troffen … als zehn Millionen Menschen eine Musterversion der modernen Gesellschaft lahmlegten. »In der Verwirrung und dem Tumult der Mai-Revolte«, schrieb Bernard E. Brown in Protest in Paris, seinem einzigartigen wissenschaftlichen Bericht über den Mai 68, »hielt man die Parolen und Rufe der Studenten für den Ausdruck von Massenspontaneität und individuellem Einfallsreichtum. Erst später stellte sich heraus, dass es sich bei diesen Parolen …«

      REVOLUTION HÖRT IN DEM AUGENBLICK AUF ZU EXISTIEREN, WO ES NOTWENDIG WIRD, SICH FÜR SIE OPFERN ZU LASSEN ES IST VERBOTEN ZU VERBIETEN WEDER GÖTTER NOCH HERREN NIEDER MIT DEM ABSTRAKTEN, LANG LEBE DAS FLÜCHTIGE DURCH DIE KUNST STARB GOTT NIEDER MIT EINER WELT, WO DIE GARANTIE, DASS WIR NICHT HUNGERS STERBEN, MIT DER GARANTIE ERKAUFT WURDE, DASS WIR AN LANGEWEILE STERBEN CLUB MED, EIN BILLIGER URLAUB IM ELEND ANDERER LEUTE WECHSELT NICHT DIE ARBEITGEBER, WECHSELT DIE TÄTIGKEIT DES LEBENS ARBEITET NIE DER ZUFALL MUSS SYSTEMATISCH ERFORSCHT WERDEN LAUF, GENOSSE, DIE ALTE WELT IST DIR AUF DEN FERSEN SEI GRAUSAM JE MEHR MAN KONSUMIERT, DESTO WENIGER LEBT MAN LEBE OHNE TOTE ZEIT, GENIESSE UNGEHINDERTE LEIDENSCHAFT WER ÜBER REVOLUTION UND KLASSENKAMPF REDET, OHNE SICH AUSDRÜCKLICH AUF DAS TÄGLICHE LEBEN ZU BEZIEHEN, OHNE ZU BEGREIFEN, WAS AN DER LIEBE SUBVERSIV UND WAS AN DER ABLEHNUNG VON ZWÄNGEN POSITIV IST, HAT LEICHEN IM MUND UNTER DEM PFLASTER LIEGT DER STRAND!

      »…um Fragmente einer einheitlichen und verführerischen Ideologie handelte, die praktisch alle in situationistischen Traktaten und Veröffentlichungen erschienen waren … Vor allem durch ihr Zutun entstand in der Mai-Revolte ein ungeheures Protestreservoir gegen die moderne Welt und all ihre Werke, das Leidenschaft, Rätselhaftes und Urzeitliches vereinte.« »Dieser Ausbruch«, sagte Präsident Charles de Gaulle in seiner Rede im Juni, als er die Macht wieder übernahm, »wurde von einigen Gruppen provoziert, die gegen die moderne Gesellschaft revoltieren, gegen die Konsumgesellschaft, gegen die technologische Gesellschaft, ob kommunistisch im Osten oder kapitalistisch im Westen … von Gruppen, die ansonsten nicht wissen, was sie an die Stelle dieser Gesellschaft setzen würden, sondern an der Negation Vergnügen finden«. »Der Beginn einer Epoche«, verkündete 1969 der Leitartikel in der zwölften und letzten Nummer des Blattes internationale situationniste. »Das Todesröcheln des historisch Irrelevanten«, befand Zbigniew Brzezinski.

      1978, als Brzezinski Nationaler Sicherheitsberater des Präsidenten der Vereinigten Staaten und »Der Beginn einer Epoche« ein im englischen Sprachraum längst vergriffenes, schlecht übersetztes Pamphlet war, konnte man erwarten, dass sich die Leser von Slash an den unvorhergesehenen Feiertag des Mai 1968 ungefähr so schwach erinnerten wie vielleicht an »Seven Day Weekend«, Gary »U.S.« Bonds’ kleineren Hit aus dem Jahr 1965. Vom Leser wurde erwartet, dass er sich den blinden Verweis auf das Atelier-populaire-Poster ansah und sich dann darübergeblendet die bestens bekannte Sex Pistols-Grafik vorstellte, Jamie Reids Fotocollage für »God Save the Queen«, auf der Königin Elizabeth II. mit einer Sicherheitsnadel durch die Lippen zu sehen war; aus dem Dunst nicht gelebter Geschichte sollten Assoziationen purzeln wie Münzen aus einem Spielautomaten. »Die revolutionären Hoffnungen der sechziger Jahre, die 1968 ihren Höhepunkt fanden«, schrieb John Berger 1975,

      sind heute blockiert oder abgeschrieben. Eines Tages werden sie wieder hervorbrechen, verändert und mit anderen Ergebnissen von neuem gelebt werden. Das ist alles, was ich glaube, die Unterschiede will ich nicht vorhersagen. Wenn dies geschieht, wird man erkennen, dass das Situationistische Programm (oder Anti-Programm) wahrscheinlich zu den visionärsten und reinsten politischen Formulierungen dieses historischen Jahrzehnts gehört und in ihm auf extreme Art und Weise seine verzweifelte Kraft und privilegierte Schwäche ihren Niederschlag fand.

      Als Manager der Dils hätten Peter Urban solche sentimentalen Abschweifungen nicht interessiert. Es gelte eine Welt zu erobern, sagte er zu McLaren, eine Taktik zu formulieren, eine Ideologie festzulegen, und überhaupt … McLaren schnitt ihm das Wort ab. »Wie kommt es dann, Peter, dass du eine Band mit einem Namen wie eine Gurke vertrittst? Oder wie ein Dildo. Was ist daran kontrovers?«

      Die Sex Pistols hatten die Dils erst ermöglicht; als ich letztere 1979 spielen sah, waren sie ein hilfloser Abklatsch, mehr nicht. Zu der Zeit, als Nancy Spungen erstochen wurde, hatten die Sex Pistols weltweit neue Bands inspiriert, von denen ungezählte Dinge taten, die es vorher im Rock ’n’ Roll nie gegeben hatte. Doch als »Übergrund-Band«, als kommerzielles Potential, als internationale Skandal-Gruppe, gab es die Sex Pistols kaum länger als neun Monate: Sie erlebten die Veröffentlichung ihrer ersten Platte am 4. November 1976 und hörten am 14. Januar 1978 auf, mehr als Verhandlungsmasse bei einem Gerichtsprozess zu sein,

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