Antisemitismus. 100 Seiten. Micha Brumlik
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Micha Brumlik
Antisemitismus. 100 Seiten
Reclam
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net
Infografik: annodare GmbH, Agentur für Marketing
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961545-5
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020533-4
Betroffen? Ein Jude in Deutschland
Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am Jom Kippur 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag, der zwei Menschen das Leben kostete, markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik. Dabei war er keineswegs der erste antisemitische Anschlag mit tödlichen Folgen. So deponierten am 9. November 1969 Mitglieder der linksradikalen Guerillabewegung Tupamaros eine Bombe im Jüdischen Gemeindezentrum Westberlins, so starben am 13. Februar 1970 sieben Mitglieder der Jüdischen Gemeinde München, allesamt Holocaustüberlebende, bei einem Brandanschlag, so wurden am 19. Dezember 1980 in Erlangen der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Frau Frida Poeschke aus antisemitischen Gründen kaltblütig erschossen. Im Falle des Mörders von Halle kam zusammen, was meist zusammenfällt: Hass auf selbstbewusste Frauen, Hass auf Homosexuelle sowie vernichtender Hass auf das Judentum – auf jüdische Menschen, die jüdische Religion und die jüdische Kultur. Zudem war er getrieben von der Wahnidee, die Juden wollten die »weiße Rasse« vernichten bzw. durch die Förderung von Immigration »umvolken«.
Mich hat der Anschlag von Halle tief erschüttert, aber nicht überrascht, war ich doch in meinem Leben immer wieder von Antisemitismus betroffen. Ich bin der Sohn von den Nazis verfolgter Juden, die die NS-Zeit im von Deutschen besetzten Europa erlebten – Gott sei Dank nicht in Konzentrations- und Vernichtungslagern, sondern ab 1938 bzw. 1942 in der Schweiz. Als fünfjähriges Kind empfand ich die Rückkehr nach Westdeutschland 1952 als traumatisch und – aber das ist eine andere Geschichte – den Wunsch, nach dem Abitur nach Israel auszuwandern, als geradezu lebensrettend. Meine Kindheit war überschattet von der stillen Trauer meiner Mutter, die sich zwar hatte retten können, aber einen großen Teil ihrer Verwandtschaft verloren hatte – zumal eine geliebte Cousine ihrer Jugend, die nach Polen deportiert und dort ermordet wurde. Sprach sie mit mir, dem inzwischen achtjährigen Kind, darüber, traten ihr Tränen in die Augen, und sie fragte sich, ob es richtig gewesen war, nach dem Krieg nach Deutschland in ihre Geburtsstadt Frankfurt am Main zurückgekehrt zu sein.
Auch ich selbst habe immer wieder Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht. Folgende Szenen haben sich mir unauslöschlich eingeprägt:
Im Alter von sechs Jahren hänselte mich ein Klassenkamerad, Sohn eines Versicherungsdirektors, nach einem Streit beim »Mensch-ärgere-Dich-nicht«-Spiel mit »Jude, Jude« und zeigte bei sich zu Hause mit dem Finger auf mich – das war 1953. Das nächste Erlebnis widerfuhr mir bei der Abiturreise nach Rom 1967, nachdem mir beim Fingerspiel mit einer Münze (à la Blow up) ein Hundert-Lire-Stück klingend auf den Boden der römischen Kirche Santa Maria Maggiore gefallen war. Unser Griechischlehrer drehte sich um, fixierte mich und schrie mich an: »Ha, Brumlik, wer hat die Wechsler aus dem Tempel gejagt, wer hat den Herrn ans Kreuz genagelt?«
Die dritte antisemitische Erfahrung machte ich während des Frankfurter Häuserkampfes in den 1970er Jahren, als ich mit anderen gegen die häufig auch von jüdischen Kaufleuten, insbesondere aber von einem nichtjüdischen sozialdemokratischen Frankfurter Baudezernenten ermutigte Spekulation demonstrierte. Neben mir ging ein späterer Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, der mir tröstend den Arm um den Hals legte und sagte: »Ach, weißt du, Micha, du bist doch ganz anders als die ganzen andern Juden.«
Zwei Jahre später war ich bei einem Studienkollegen der Philosophie mit einigen anderen Kommilitonen in einer bayerischen Kleinstadt zu Gast, und wir nahmen mit seinen Eltern das Abendessen ein. Nach dem Essen kam der Vater des Hauses auf mich zu und sagte: »Wissen Sie – Sie erinnern mich an etwas – da gab es doch mal diesen Film aus der NS-Zeit, Jud Süß – Sie erinnern mich an die Hauptfigur.« Ich antwortete: »Kein Wunder – ich bin ja auch Jude«, woraufhin der Gastgeber erbleichte und nur noch stammelte: »Oh, oh, entschuldigen Sie bitte, so habe ich das doch nicht gemeint …«
Die nächsten Erlebnisse stammen aus den 1980er Jahren, als ich mich in einer Fernsehsendung als Jude gegen Rassismus geäußert hatte – um zwei Tage später im Briefkasten meiner Privatadresse einen anonymen Brief mit eingeklebter Rasierklinge zu finden, in dem Folgendes stand: »Ich wünsche Dir, dass Deine Frau von einem aidskranken Nigger durchgefickt wird …«
Was also ist »Antisemitismus« – jenes Phänomen, das mein Leben nachhaltig geprägt hat – und sei es nur durch das Leid meiner Eltern in der Nachkriegszeit? Die Wissenschaft gibt darauf verschiedene Antworten:
Unter Antisemitismus werden vielfältige Formen der Judenfeindschaft verstanden, die sich in unbegründeten, spontanen Ressentiments, gegenstandslosen und der Sache nach falschen Vorurteilen sowie in individuellen, gruppenbezogenen oder auch institutionellen Verhaltensweisen (das reicht von verbaler Hetze und politischer Diskriminierung bis zum Massenmord) äußern können und auch geäußert haben. Bei alledem folgt das antisemitische Weltbild in Ost und West stets einem paranoiden Leitgedanken: Seine Anhänger sind – angesichts der objektiven Komplexität der Verhältnisse – von der Suche nach geheimen Drahtziehern im Hintergrund besessen; das Aufdecken einer (von der vermeintlich konformistischen Mehrheitsmeinung verdeckt gehaltenen) Ursache allen Übels ist ihre Leidenschaft.
Zudem neigen Antisemiten immer dazu, den Einfluss, die Macht und die Anzahl von Jüdinnen und Juden systematisch zu überschätzen. Und schließlich schreibt der Antisemitismus Letzteren in projektiver Wunscherfüllung ein Übermaß an Reichtum, sexueller Potenz, intellektueller Zersetzungskraft und innerem Zusammenhalt zu.
Judenfeindschaft äußert sich als Vorurteil (»Juden denken immer nur ans Geld«), als Generalisieren von Ressentiments (»ich kannte einen Juden, der mich abschätzig angesehen hat, so sind sie alle …«), aber auch in Form individueller Aggressivität sowie in gezielten Erniedrigungen und Beleidigungen – bis hin zu Mord und Totschlag. Im Rahmen totalitärer, diktatorischer Herrschaft wie im Nationalsozialismus nahm Judenfeindschaft die Form eines Staatsverbrechens an. Das heißt: Jüdinnen und Juden wurden stigmatisiert (durch erzwungenes Tragen des Gelben Sterns, erzwungene zusätzliche Vornamen), entrechtet (durch das Verbot, ihre erlernten Berufe auszuüben, räuberische Besteuerung und durch den als zivilrechtlichen Verkauf getarnten Raub ihres Eigentums – die sogenannte »Arisierung«) und schließlich ermordet (sechs Millionen europäische Jüdinnen und Juden wurden durch gezieltes Verhungernlassen, Zwangsarbeit, Erschießung und industrielles Vergasen getötet).
Auf jeden Fall war das, was