Kartellrecht und Ökonomie. Daniel Zimmer
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Zu den praktischen Schwierigkeiten bei der Feststellung des räumlich relevanten Marktes vertritt der BGH die Auffassung, dass diese nunmehr durch das Netzwerk der Kartellbehörden in der Europäischen Union verringert seien und außerdem in gleichem Maße aufträten, wenn der Markt normativ beschränkt wäre.311 Auch bei normativer Beschränkung müsse der aktuelle oder potentielle Wettbewerb aus dem Ausland berücksichtigt werden (dann statt bei der Marktabgrenzung im Rahmen der Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung). Zusätzlich sei „im Rahmen der 6. GWB-Novelle deutlich geworden, dass der Gesetzgeber allein von einem ökonomischen Marktbegriff ausgeht“.312
β) Hypothetischer Monopolistentest
Im Ausgangspunkt grenzt das Bundeskartellamt Märkte anhand des Bedarfsmarktkonzepts ab. Nur ergänzend greift es teilweise auf den hypothetischen Monopolistentest zurück. Das Amt qualifiziert den SSNIP-Test (in der deutschen Anwendungspraxis häufig als „Preisheraufsetzungstest“ bezeichnet) als einen „anerkannte[n] ökonomische[n] Ansatz zur Überprüfung der Grenzen sachlich relevanter Märkte“313 und versteht ihn als „im Kern auf dem Ziel [beruhend], die Ausweichreaktionen der Marktgegenseite (des Verbrauchers) auf ein anderes am Markt angebotenes Substitutionsprodukt im Falle einer geringfügigen aber dauerhaften Preiserhöhung des betrachteten Produkts zu messen“.314 Eine konkrete Anwendung erfolgt in diesem Fall zur Bestimmung des sachlich relevanten Marktes im öffentlichen Personennahverkehr jedoch nicht. Der Gedanke einer hypothetischen 5–10 %igen Preiserhöhung zur Feststellung der Wechselbereitschaft der Marktteilnehmer findet sich weiterhin im Fall BayWa/Wurth Agrar315 in Bezug auf die räumliche Marktabgrenzung sowie im Fall Van Drie Holding/Alpuro Holding im Rahmen der sachlichen wie auch der räumlichen Marktabgrenzung.316 Nach der im letztgenannten Fall geäußerten Ansicht des Bundeskartellamtes entfaltet die Durchführung des SSNIP-Tests „eine Indizwirkung für die räumliche Marktabgrenzung“.317 Die im Grundsatz aber kritische Haltung des Bundeskartellamtes gegenüber der Anwendung des hypothetischen Monopolistentestes wird an den Ausführungen in der Entscheidung EnBW/VNG deutlich. Das Bundeskartellamt sieht vorliegend aus prozessökonomischen Gründen von der Durchführung des Testes ab und verweist zudem auf dessen begrenzte Aussagekraft, wenn der originäre Wettbewerbspreis unbekannt ist.318 Im Ergebnis stünde aus Sicht der zuständigen Beschlussabteilung „jedenfalls im Rahmen eines Zusammenschlusskontrollverfahrens mit seinem engen Fristenregime der dafür erforderliche Aufwand außer Verhältnis zu etwaigen zusätzlichen Erkenntnissen“.319
In Tönnies Holding/Schlachthof Tummel sprach das Bundeskartellamt den SSNIP-Test knapp an. Die Marktuntersuchung hatte ergeben, dass 70 % der Befragten auch bei einer „ca. 10 %“igen Preiserhöhung von Sauenfleisch nicht auf Schweinefleisch ausweichen würden. Zudem stellt das Bundeskartellamt fest, dass der SSNIP-Test vorliegend „nur bedingt geeignet“ sei, da deutliche Produkt- und Preisunterschiede zwischen Schweinefleisch und Sauenfleisch festgestellt wurden.320 Damit wendet das Bundeskartellamt insbesondere auch nicht die standardmäßige Formel der Europäische Kommission an, die stets von einer „5–10 %igen Preiserhöhung“ spricht, sondern beschränkt die Befragung auf das obere Ende des Preiserhöhungsrahmens des SSNIP-Tests.
Auch die deutschen Gerichte üben bislang Zurückhaltung. Das OLG Düsseldorf sah den SSNIP-Test im Rhön-Grabfeld-Beschluss als ungeeignet zur Marktabgrenzung an, da Voraussetzung für dessen Anwendung das Vorhandensein von Marktpreisen sei, die aber wegen der bundeseinheitlichen Vergütung von Krankenhausleistungen nicht existierten.321 In der Sache Ticketvertrieb I (CTS Eventim/Four Artists) stellte das OLG Düsseldorf fest, dass der SSNIP-Test bei mehrseitigen Märkten nicht hinreichend aussagekräftig sei, da er die Rückkoppelungseffekte zwischen den verschiedenen Marktseiten nicht zuverlässig erfassen könne.322
Der BGH nahm erstmals in der Entscheidung Soda Club II323 zum SSNIP-Test Stellung. Zwar handelte es sich hierbei um einen Fall im Bereich des damaligen Art. 82 EG (heute Art. 102 AEUV), § 19 GWB, auf die dort getroffenen Aussagen zum SSNIP-Test wird aber auch im Bereich der Fusionskontrolle Bezug genommen.324 Laut BGH „handelt es sich bei dem SSNIP-Test um eine Modellerwägung, die für die Marktabgrenzung eine Hilfestellung liefern, die Marktabgrenzung aber nicht als ausschließliches Kriterium bestimmen kann.“ In der Entscheidung diskutiert der BGH weiterhin die Anwendbarkeit des Tests, wobei er nicht nur auf das grundsätzliche Problem der Cellophane fallacy325 verweist, sondern auch ein fallspezifisches Problem aufgreift: Der Markt weise nur eingeschränkte Preistransparenz auf, sodass eine elastische Reaktion des Nachfragers auf eine hypothetische Preiserhöhung gar nicht möglich sei.326
Im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde im Verfahren EDEKA/Kaiser’s Tengelmann setzte sich der BGH im Jahr 2018 nicht inhaltlich umfassend mit der Marktabgrenzung auseinander, da die Marktabgrenzung im konkreten Verfahren keinen Klärungsbedarf aufzeige und „grundsätzlich Sache des Tatrichters“ sei. Jedoch erwähnte der BGH beiläufig, dass es „allgemein in Fragen der Marktabgrenzung einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände“ bedürfe. Dabei könne der SSNIP-Test „eine Hilfestellung liefern“, jedoch „nicht als ausschließliches Kriterium“ im Rahmen der Marktabgrenzung dienen.327
Es zeigt sich, dass im deutschen Recht noch stärker als im europäischen am Konzept des Bedarfsmarktes zur Abgrenzung des relevanten Marktes festgehalten wird. Trotz der beschriebenen Zurückhaltung ist in jüngster Zeit jedoch festzustellen, dass der aus ökonomischer Sicht vorzugwürdige hypothetische Monopolistentest auch hier eine größere Bedeutung gewinnt, wie es in zahlreichen europäischen Ländern bereits seit einiger Zeit der Fall ist.
179 Vgl. zur Analyse auch Säcker (2004), der eine Heranziehung des auf einer Fortentwicklung von Bedarfsmarktkonzept und Berücksichtigung der Angebotssubstituierbarkeit beruhenden Konzepts der Wirtschaftspläne zur Diskussion stellt. 180 EuGH, Urt. v. 21.2.1973, Rs. 6/72 – Europemballage und Continental Can/Kommission, Slg. 1973, 215, 495, Rdnr. 32. 181 Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes, ABl.EG 1997 C 372/5, Rdnr. 13. Die Kommission hat am 26.6.2020 eine öffentliche Konsultation eingeleitet, um im Hinblick auf die Inhalte der Bekanntmachung Feststellungen über einen Aktualisierungsbedarf treffen zu können. 182 Siehe hierzu Rdnr. 7 der Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes, ABl.EG 1997 C 372/5: „Der sachlich relevante Produktmarkt umfasst sämtliche Erzeugnisse und/oder Dienstleistungen, die von den Verbrauchern hinsichtlich ihrer Eigenschaften, Preise und ihres vorgesehenen Verwendungszwecks als austauschbar oder substituierbar angesehen werden.“ So aus