Kriminologie. Tobias Singelnstein
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Aber nicht nur der Versuch, den Forschungsgegenstand zu beschreiben bereitet Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass sich dieser laufend und unter den Augen des jeweiligen Betrachters verändert. Denn das Begreifen von Bedeutungen ist stets beispielgebunden, also auf Fälle der Anwendung des Wortes bezogen. Eine Erklärung verstehen heißt, die Regeln ihres Gebrauchs nachvollziehen zu können, nicht aber, dieselben Anwendungen vor Augen zu haben.
[22]„Und die Verständigung durch die Sprache ist nicht der Vorgang, dass ich durch ein Gift im Andern die gleichen Schmerzen hervorrufe, wie ich sie habe.“47
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In diesem Sinne prägt auch der Zeitgeist die wissenschaftliche Wahrnehmung und führt dazu, dass das Erkenntnisinteresse sich wandelt und neue Erklärungsmodelle bevorzugt werden. Stichworte zu den Veränderungen in den letzten dreißig Jahren lauten: Kriminalität wurde von einem sozialschädlichen Verhalten, das nach Reaktionen verlangt, zu einem Risiko, welches vor Schadenseintritt zu kalkulieren und kontrollieren ist. Dem entsprechend haben sich die regulierenden Praktiken der Kriminalpolitik von nach- zu vortatbezogenen Interventionen verlagert, wobei das staatliche Sicherheitsmonopol zugunsten von Eigenvorsorge und einer Marktöffnung für nichtstaatliche Sicherheitsanbieter durchbrochen wurde. Die Kriminalpolitik hat ihren moralischen Bezug aufgegeben und konzentriert sich auf ein technologisch betriebenes Sicherheitsmanagement. Die Kriminalprävention hat ihren Schwerpunkt von personenbezogenen sozialpolitischen und resozialisierenden Interventionen, mit denen man mutmaßliche Kriminalitätsursachen grundlegend anzugehen glaubte, auf die situationsbezogene Erschwerung von Tatgelegenheiten in pragmatischen kleinen Schritten verlagert (→ §§ 21, 22, 24).
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Vor diesem Hintergrund geht das Verstehensmodell bei der Klassifizierung des Forschungsgegenstandes einen anderen Weg. Die kriminologische Befassung mit Kriminalität erfolgt danach dreidimensional. Zum einen gilt das Interesse den Regeln des Gebrauchs der Kriminalitätsdefinition im informellen gesellschaftlichen Diskurs und durch die Instanzen der Kriminalitätskontrolle. Zum anderen wird nach Regeln geforscht, denen das damit bezeichnete Verhalten folgt. Drittens schließlich gilt das Interesse den Regeln, nach denen die möglichen Anwendungen des Gebrauchs der ersten beiden Regeln phänomenologisch in Subkategorien (Gewalt-, Sexual-, Umweltkriminalität usw.) eingeteilt werden können. Die Kriminologie betrachtet diese drei Arten von Regeln des crime talk unter dem Aspekt ihres tatsächlichen Gebrauchs: Nicht in ihrer logischen Konsistenz oder der normativen Korrektheit ihrer Anwendung, sondern in ihrer effektiven Verwendung in der gesellschaftlichen Praxis.
26 Die Bildung besonderer Kriminalitätserscheinungen (→ § 18) kann hier weitgehend unberücksichtigt bleiben, weil, wiederum Wittgenstein folgend, die charakteristische Besonderheit einzelner Bestandteile von Kriminalität nicht in diesen, sondern in ihrer deutenden Bestimmung liegt. Darum wäre es irreführend, „besondere Kriminalitätserscheinungen“ als gegebene Phänomene anzusehen, die durch Beobachtung in ihrer Ähnlichkeit erkannt werden könnten. Die Kriminalität als parzellierte Segmente zu verstehen, suggerierte eine falsche Gegenständlichkeit dieser [23] vermeintlich objektiv vorhandenen Teile. Die Teile existieren nicht an sich, sondern werden durch rubrizierende Deutung gebildet. Allemal beschreiben Begriffe wie „Ausländerkriminalität“ oder „Organisierte Kriminalität“ nicht Phänomene, sondern sind Redeweisen, welche gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Akzentuierungsbedürfnissen Ausdruck geben. Die Maßgeblichkeit der jeweiligen façon de parler und ihres Deutungsrahmens zeigt sich an den Unterschieden der scheinbar ähnliche Phänomene bezeichnenden Begriffe „Wirtschaftskriminalität“ und „Kriminalität der weißen Kragen“: Der erste Begriff ist kriminaltaktisch und dient zur Koordinierung von Verfolgungsaktivitäten; der zweite Begriff verweist skandalisierend auf Machenschaften in den Führungsetagen der Gesellschaft48.
IV. Schlussfolgerungen
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Vorerst ist festzuhalten, dass beide Standpunkte in der Kriminologie vertreten werden, wobei das Modell des Erklärens vorherrschend ist, welches die Kriminologie als eine empirische Erfahrungswissenschaft bestimmt. Die Dominanz des Erklärens ist in der Kriminologie naheliegend, da ihr Datenmaterial weitgehend über Kriminalstatistiken verfügbar ist und der Staat als größter Auftraggeber der kriminologischen Forschung (→ § 1 Rn 9 ff.) sich bevorzugt für die quantitativ-vergleichende Bestimmung des Kriminalitätsvolumens und der Wirksamkeit staatlicher Interventionen interessiert.
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Allerdings werden wesentliche Aspekte des Forschungsgegenstands wie gezeigt nur bei einem Vorgehen sichtbar, das dem Verstehensmodell folgt – denn ein maßgeblicher Teil der Auseinandersetzung mit Kriminalität ist die Beschäftigung mit dem interaktiven Prozess ihrer Konstruktion durch den Beobachter. Einer auf kausale Erklärungen bedachten, rein objektiv und vermeintlich von außen wahrnehmenden Perspektive muss diese Ebene verborgen bleiben.
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Die Kriminologie setzt sich also (auch) mit den gesellschaftlichen Sinnsetzungen von Normabweichung und Kriminalität diskursiv auseinander, wobei der kriminologische Diskurs nicht vollständig unabhängig von der gesellschaftlichen Verständigung verläuft, sondern auf diesen zurückwirkt und ihn mittelbar beeinflusst. Schon bevor Kriminologen sich mit Kriminalität befassten, war dies ein Thema des alltäglichen Diskurses. Kriminologen greifen ein Thema auf, welches mit Bedeutungen belastet ist, die die „normalen“ Leute ihm beimessen, und sie müssen diese „normalen“ Bedeutungen – nicht anders als die Laien es tun – reinterpretieren, um den Gegenstand ihrer Analyse zu bestimmen.
[24]30Schaubild 1.1: Erklären und Verstehen
Kausales Erklären | Interpretatives Verstehen | |
Modell | Monistisch:erklärt „Ursachen“ menschlichen Verhaltens wie die verursachenden Faktoren eines Naturgeschehens | Dualistisch:Sinnhaftigkeit und Intentionalität der „Gründe“ des Handelns von Subjekten müssen anders als eine Naturgegebenheit bestimmt werden |
Sozialwelt als Gegenstand | Unabhängig vom Beobachter als mit ihm nicht kommunizierendes Objekt materiell vorhanden | Forscher ist mit Sozialwelt reflexiv verbunden: er hat daran Anteil, agiert mit der Forschung in ihr und diese reagiert kommunikativ auf Forschungsergebnisse |
Beobachtung | Erfolgt einseitig: Beobachter → Objekt | Verläuft interaktiv: Beobachter ↔ Objekt |
Methode | Quantitativ an statistischen Zusammenhängen interessiert | Qualitativ an der Rekonstruktion des Sinns interessiert, den der Handelnde mit seinem Handeln verbindet |
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Damit stellt sich die prekäre Frage, was die kriminologische Wahrnehmung zur wissenschaftlichen macht, also vom Laienverständnis unterscheidet. Die Antwort fiele nur leicht, wenn man mit dem Erklärungsmodell davon ausgehen könnte, dass die kriminologische Beobachtung in der streng objektiven wissenschaftlichen Wahrnehmung und Erklärung von Faktizität bestünde. Jedoch gibt es zur Beobachtung der Sozialwelt nicht den einen externen objektiven Standpunkt, sondern nur Standpunkte in ihr, die den Beobachtenden einbeziehen, die seine Wahrnehmung perspektivisch und seine Feststellungen bestreitbar machen.
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Darum