Kriminologie. Tobias Singelnstein
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Die Rechtstreuen finden in der Bestrafung des Rechtsbrechers eine Ersatzbefriedigung für ihren eigenen Triebverzicht, mit der sie ihr eigenes unbewusstes Schuldgefühl auf den Kriminellen als Sündenbock projizieren.
„Der Sühnedrang ist also eine Schutzreaktion des Ichs gegen die eigenen Triebe im Dienste ihrer Verdrängung, um das seelische Gleichgewicht zwischen verdrängenden und verdrängten Kräften aufrechtzuerhalten. Das Verlangen nach Bestrafung des Täters ist gleichzeitig eine Demonstration nach innen, um die Triebe einzuschüchtern: ‚Was wir dem Täter verbieten, darauf müsst auch ihr verzichten‘. Je grösser nun der Druck der verdrängten Tendenzen ist, umso mehr benötigt das Ich die Sühne als abschreckendes Beispiel gegenüber der Urwelt der eigenen verdrängten Triebe.“172
Damit bestehen Verbindungen von der Psychoanalyse zur kritischen Kriminologie (→ § 13 Rn 21 f.) und zu generalpräventiven Straftheorien (→ § 20 Rn 6 ff.).173
[81]III. Psychiatrische Perspektiven
Lektüreempfehlung: Dilling, Horst; Mombour, Werner; Schmidt, Martin H. (Hrsg.) (2015): Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10, Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. 10. Aufl., Bern; Nedopil, Norbert (2006): Prognosen in der Forensischen Psychiatrie. Ein Handbuch für die Praxis. Lengerich/Berlin; Schneider, Hendrik (2006): Die Kriminalprognose bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung. An den Grenzen der klinischen Kriminologie. StV 26, 99-104.
Nützliche Websites: http://dsm.psychiatryonline.org/doi/book/10.1176/appi.books.9780890425596 (zu DSM-5); https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/; http://www.who.int/classifications/icd/en/index.html (zu ICD-10).
16 Auch in der Kriminalpsychiatrie werden neben den traditionellen „klinischen“ individualdiagnostischen Methoden, die assoziativ Fachwissen auf den Einzelfall anwenden, zunehmend standardisierte quantitative und statistisch geprüfte Verfahren eingesetzt. Deutlicher als in der Kriminalpsychologie richtet sich das Augenmerk auf Ausprägungen einer „gestörten“ Persönlichkeit zur Erklärung vor allem von repetierender Gewalt- und Sexualkriminalität und sonstiger „klassischer“ Rückfallkriminalität männlicher Täter. Die Annahme einer mit Kriminalität in Zusammenhang stehenden psychiatrisch diagnostizierbaren Persönlichkeitsstörung reiht sich in den breiten Strom jener Vorstellungen, die Kriminalität aus einem Manko erklären (→ § 14 Rn 7 ff.).
1. Klassifikationssysteme
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Die Bemühungen um empirisch geprüfte Instrumente zur Bestimmung psychischer Störungen führten zur Entwicklung von zwei international verbreiteten und aufeinander abgestimmten Klassifikationssystemen: Der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10)174 und dem von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung verfassten Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5)175.
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Diese Klassifikationssysteme gehen auf bevölkerungsstatistische Erhebungen zurück, anhand derer Glossare mit Beschreibungen psychischer Störungen und diagnostischer Kriterien erstellt wurden. Unter Berücksichtigung der Anwendungserfahrung bei der Diagnosestellung wurden die Kriterien schrittweise validiert und revidiert. Wegen der ICD-10 zu Grunde liegenden interkulturellen Perspektive sind die diagnostischen Kriterien dort allgemeiner und weniger kategorisch als in [82]DSM-5 formuliert. Insbesondere klammert ICD-10 – anders als das nordamerikanische DSM-5 – bei der Definition des Störungsbildes Beeinträchtigungen in sozialen und beruflichen Funktionsbereichen aus. In Deutschland und in der Schweiz ist ICD-10 für die offizielle Dokumentation verpflichtend vorgeschrieben. Daneben wird – insbesondere im Bereich der Forschung – auch das DSM-5 häufig angewendet.
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Persönlichkeitsstörungen werden in diesen Klassifikationssystemen als tief verwurzelte, lang anhaltende Verhaltensmuster bestimmt, die sich in starren Reaktionen auf persönliche und soziale Lebenslagen zeigen176. Beispielhaft sei zitiert:
ICD-10 F60.2 Dissoziale Persönlichkeitsstörung
Diese Persönlichkeitsstörung fällt durch eine große Diskrepanz zwischen dem Verhalten und den geltenden sozialen Normen auf und ist charakterisiert durch:
1. Kaltes Unbeteiligtsein und Rücksichtslosigkeit gegenüber den Gefühlen anderer.
2. Grobe und andauernde Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen.
3. Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen, aber keine Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen.
4. Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten.
5. Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbewusstsein oder zum Lernen aus Erfahrung, besonders aus Bestrafung.
6. Ausgeprägte Neigung, andere zu beschuldigen oder einleuchtende Rationalisierungen für das eigene Verhalten anzubieten, durch welches die Person in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist.
Andauernde Reizbarkeit kann ein zusätzliches Merkmal sein. Eine Störung des Sozialverhaltens in der Kindheit und Jugend stützt die Diagnose, muss aber nicht vorgelegen haben.
[83]DSM-5 Diagnostische Kriterien für 301.7: Antisoziale Persönlichkeitsstörung
A. Ein tief greifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das seit dem 15. Lebensjahr auftritt. Mindestens drei der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
1. Versagen, sich in Bezug auf gesetzmäßiges Verhalten gesellschaftlichen Normen anzupassen, was sich in wiederholtem Begehen von Handlungen äußert, die einen Grund für eine Festnahme darstellen.
2. Falschheit, die sich in wiederholtem Lügen, dem Gebrauch von Decknamen oder dem Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen äußert.
3. Impulsivität oder Versagen, vorausschauend zu planen.
4. Reizbarkeit und Aggressivität, die sich in wiederholten Schlägereien oder Überfällen äußert.
5. Rücksichtslose Missachtung der eigenen Sicherheit oder der Sicherheit anderer.
6. Durchgängige Verantwortungslosigkeit, die sich im wiederholten Versagen zeigt, eine dauerhafte Tätigkeit auszuüben oder finanziellen Verpflichtungen nachzukommen.
7. Fehlende Reue, die sich in Gleichgültigkeit oder Rationalisierung äußert, wenn die Person andere Menschen gekränkt, misshandelt oder bestohlen hat.
B. Die Person ist mindestens 18 Jahre alt.
C. Eine Störung des Sozialverhaltens war bereits vor Vollendung des 15. Lebensjahres erkennbar.