Kriminologie. Tobias Singelnstein
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9 In der Nähe von Instanzen der Strafverfolgung und der sonstigen Kriminalitätsbearbeitung wird die Kriminologie zur anwendungsbezogenen Bedarfsforschung und zielt auf die Produktion eines empirisch geprüften Erfahrungswissens7. Dabei geht es um das Erklären von Daten, welche als Indikatoren für Umfang und Struktur [4] des tatsächlichen Kriminalitätsvorkommens verstanden werden, durch deren statistische Bezugsetzung zu anderen Sozialdaten. Die Beschreibung von tatsächlichen Funktionsabläufen der Strafverfolgung erlaubt dieser eine folgenorientierte Selbstbeurteilung mit der Möglichkeit, aus Erfahrung zu lernen. Die systematische Analyse der faktischen Auswirkungen von Interventionen der Strafverfolgungsinstanzen ermöglicht die Prüfung, ob diese den erwarteten Erfolg haben. Die Eignung der kriminologischen Bedarfsforschung zur Optimierung der staatlichen Kriminalitätskontrolle und zur Evaluation kriminalpolitischer Handlungsstrategien macht diese Forschung zu einer bedeutsamen Informations- und Beratungsinstanz der praktischen Kriminalpolitik.
10 Freilich geht es bei einer solchen Bedarfsforschung stets und einzig um die Befriedigung des Informationsbedarfs staatlicher Instanzen zur Optimierung der Effizienz ihrer Strategien der Kriminalitätsverhütung und -bearbeitung. Die staatliche Folgenorientierung verlangt nach verwertbaren Erkenntnissen mit möglichst eindeutigem Aussagegehalt. Alles nicht erfahrungswissenschaftlich Überprüfbare, etwa materielle Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde, erscheint in dieser Perspektive als belanglos.8
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Die Servicefunktion der erklärenden Bedarfsforschung sollte indes nicht überschätzt werden. Empirische Befunde fallen selten genug eindeutig aus und noch seltener wecken sie einen ganz bestimmten kriminalpolitischen Handlungsbedarf. Da praktische Kriminalpolitik und Strafrechtsanwendung von Repräsentanten verschiedener politischer Interessen und Gruppen betrieben werden, verwundert es nicht, wenn jede der Gruppen aus dem reichlich vorhandenen erfahrungswissenschaftlichen Informationsangebot auf die ihr genehme Empirie zurückgreift bzw. sie im eigenen Interesse interpretiert. Zudem besteht die Gefahr der Orientierungslosigkeit infolge eines überreichen, teilweise heterogenen und ganz selten eindeutige Entscheidungen untermauernden Datenbestandes.
12 Als Gegenrichtung zur Bedarfsforschung haben sich verschiedene Strömungen der akademischen Kriminologie entwickelt. Diese bündeln sich heute im Wesentlichen im Erkenntnismodell des Verstehens, welches dem des Erklärens gegenübersteht (→ § 2). Ihnen ist gemein, dass sie die ihnen zugedachte Rolle der Stabilisierung des Kriminaljustizsystems ablehnen. Im Rahmen dessen wird verschiedentlich ein explizit „kritisches“, „radikales“ Fachverständnis vertreten (→ § 13 Rn 10, 21 f.). So haben in den 1930er Jahren Georg Rusche (1900-1950) und Otto Kirchheimer (1905-1965)9 erstmals auf der Basis der marxistischen Gesellschaftstheorie bezweifelt, dass das Kriminaljustizsystem Kriminalitätsverhütung bezwecke. Die Autoren nehmen an, die Kriminalitätskontrolle und gerade der Strafvollzug schaffe vielmehr [5] ein vorbildhaftes Muster für die Disziplinierung der proletarischen Klasse. Ihre ökonomische Analyse des Strafvollzugs kommt zu dem Ergebnis, dieser steuere im Wesentlichen den Zufluss und die Abschöpfung von Arbeitskräften.10 Die Arbeitssituation im Strafvollzug sei eine Imitationsvorlage für die allgemeine Arbeitsmoral.11 1945 skandalisierte Edwin H. Sutherland (1883-1950) die Kriminalität der Mächtigen und stellte mit Blick darauf die provokante Frage:
„Is ‚White Collar Crime‘ Crime?“12
Die Frage bezieht ihre bleibende Aktualität aus der darin anklingenden Annahme, dass das Kriminaljustizsystem kriminelle Handlungen und Personen selektiv erfasst und andere verschont. Das Schlagwort crimes of the powerful13 steht seither als Sinnbild für die zumeist nicht wahrgenommene, nicht verfolgte und nicht bestrafte Kriminalität der Träger sozialer, ökonomischer und politischer Macht.
13 Im Gefolge der 1968er-Studentenbewegung entwickelt sich in der westlichen Welt eine zunächst vor allem marxistisch inspirierte kritische Kriminologie. Diese sieht in der offiziellen Ideologie der Kriminalitätsbekämpfung eine Verschleierung der Disziplinierung von sozial ohnehin Benachteiligten, die im Interesse der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen status quo erfolgt. Michel Foucault (1926-1984) sah seinerseits gerade in der vermeintlich zivilisatorischen Entwicklung des Strafrechts von den „grässlichen“ und „pittoresken“ Strafen hin zur disziplinierenden Freiheitsstrafe die Herrschaftslogik des modernen Strafrechts verwirklicht, das sich durch subtilere Kontrollmechanismen fortschreitend der Individuen bemächtige.14 Der vernichtende Zugriff auf den Körper wird danach durch die umfassendere und effektivere Vereinnahmung der Seele ersetzt.
„Das Gefängnis, diese düstere Region im Justizapparat, ist der Ort, wo die Strafgewalt, die ihr Geschäft nicht mehr mit offenem Antlitz zu betreiben wagt, stillschweigend ein Feld von Gegenständlichkeit organisiert, damit die Bestrafung als Therapie und das Urteil als Diskurs des Wissens öffentlich auftreten kann.“15
14 In Großbritannien kritisiert die radikale Kriminologie den professionellen control talk des crime control establishments als ein Muster, das unter dem Deckmantel von Sozialnutzen, Wohltätigkeit und wissenschaftlicher Notwendigkeit operiere.16 Als von Vertretern des left realism entdeckt wird, dass auch die Opfer von Straftaten [6] sozialen Benachteiligungen ausgesetzt sind, gewinnt die Forderung nach Ersetzung des Strafrechts durch andere gesellschaftliche Umgangsformen mit konflikthaften Situationen an Bedeutung. Die von Skandinavien ausgehende Bewegung des Abolitionismus (Abolition = Abschaffung, Aufhebung, Beseitigung) knüpft an die Abschaffung der Sklaverei an. Die Assoziation, dass in der Sklaverei wie im Gefängnis Menschen wie Tiere gehalten werden, will gegen das Gefängnis einen ähnlichen Sturm moralischer Entrüstung auslösen wie dies der Roman „Onkel Toms Hütte“ gegen die Sklaverei tat. Der Buchtitel „Überwindet die Mauern!“17 steht hierfür als Programm. Aus der Ablehnung der „durchstaatlichten“ Gesellschaft ergibt sich zudem die antietatistische Grundtendenz, soziale Konflikte, aus denen Kriminalität entsteht und die diese verursacht, in ihren unmittelbaren gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang zurückzuverweisen und auf die Selbstheilungskräfte autonomer zwischenmenschlicher Verständigung zu vertrauen.18 In Deutschland werden diese verschiedenen Tendenzen einer kritischen Deutung der Kriminalitätskontrolle vor allem im Kontext des labeling approach (→ § 13 Rn 6 ff.) diskutiert, der auf Kriminalisierungsprozesse statt auf kriminelles Verhalten fokussiert ist.19
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Inzwischen richtet die kritische Kriminologie ihr Augenmerk auf die zunehmenden Unterschiede von Macht und Wohlstand in einer globalisierten politischen Ökonomie. Risikogeschäfte in internationalen Finanzmärkten, Staatskriminalität und ihre mangelhafte Aufarbeitung, als Polizeiaktionen getarnte militärische Einsätze, die Ursachen des neuen Terrorismus, Umweltschäden, welche von multinationalen Unternehmen zur Gewinnmaximierung systematisch einkalkuliert werden, die Gewalt von Rechtsextremen und die häusliche männliche Gewalt werden auch von der kritischen Kriminologie als bearbeitungsbedürftige Szenarien verstanden.20 Dabei entsteht mitunter ein gewisses Spannungsfeld mit einer staatskritischen, formale Sanktionen ablehnenden Grundeinstellung.
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Weiterentwicklungen des kritischen Ansatzes finden sich in der feministischen Kriminologie (→ § 9 Rn 33 ff.) sowie in der besonders im englischsprachigen Raum verbreiteten cultural criminology (→ § 13 Rn 28 ff.). Dabei handelt es sich um eine Heranführung der Kriminologie an die Kulturwissenschaften (cultural studies). Kriminalität und ihre Kontrolle werden dabei als Ausprägungen des kulturellen Lebens verstanden – von Lebensstilen,