Kriminologie. Tobias Singelnstein
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Die Gesellschaft ist die Aushandlungsinstanz von Kriminalität. Die soziale Interaktion über Normalität und Normabweichung, Erwünschtes und Geächtetes, Toleranz und Repressionsbedürftigkeit bestimmt die Inhalte der Kriminalität. Diese ist nicht ohne ihren Charakter als Abweichung von einem gesellschaftlich definierten Normalitätsmaßstab definierbar, also selbst gesellschaftlich geprägt. Sie ist Teil des kollektiven Sinnsystems der Sozialwelt, in der Bedeutungen verliehen und Sinn erzeugt wird. Mehr noch: Kriminalität ist ein Spiegel der Gesellschaft. In der jeweiligen inhaltlichen Bestimmung des Kriminellen drückt sich pars pro toto die jeweilige Gesellschaft in ihrem Normalitätsverständnis und ihrer Toleranzbereitschaft aus. Der Charakter der Kriminalität als Werk und Spiegel der Gesellschaft ist die Basis, auf der die miteinander wetteifernden Grundverständnisse der Kriminologie entwickelt und eigene Positionen bezogen werden können.
III. Der Verbrechensbegriff
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Mit dem Begriff des „Verbrechens“ ist anders als im Strafrecht keine Abgrenzung zum Vergehen (§ 12 StGB) gewollt, sondern eine diffuse Sammelbezeichnung angesprochen, deren Inhalt klärungsbedürftig ist. Angesichts dessen bestehen verschiedene Verbrechensbegriffe, die je verschiedene klärende Antworten geben.24
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Dem formellen oder legalistischen Verbrechensbegriff zufolge sind Verbrechen alle von strafrechtlichen Normen mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen. Was Verbrechen ist und was nicht hängt damit stets von den jeweils in einer Gesellschaft geltenden Strafgesetzen ab. Diese Definition von Verbrechen ist somit klar und gut abgrenzbar. Andererseits kann sie nicht erfassen, dass sich die gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was Kriminalität ist, im Laufe der Zeit wandeln. Damit wird [11] die Bestimmung des Forschungsgegenstandes von den Wertungen des Gesetzgebers abhängig.
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Dagegen richten sich die materiellen Verbrechensbegriffe mit dem Versuch, das Wesen des Verbrechens aus seiner strafrechtlichen Bestimmung zu lösen. Welche Kriterien stattdessen heranzuziehen sind, wird unterschiedlich beantwortet. Nach dem natürlichen (oder naturrechtlichen) Verbrechensbegriff lassen sich Handlungen, die epochen- und kulturübergreifend als verwerflich angesehen werden, von solchen unterscheiden, die erst durch gesetzliche Regelungen als solche definiert werden. Den delicta mala per se (in sich schlechte Taten) stehen die delicta mala quia prohibita (schlicht verbotene Taten) gegenüber. Dem Verbrechensbegriff sollen nur erstere unterfallen. Ein anderer Ansatz orientiert sich an den geschützten Rechtsgütern. Werden bestimmte Interessen von der Rechtsordnung als schützenswert anerkannt, stellt ihre Verletzung ein Verbrechen dar. Damit bleibt die normative und nationalstaatliche Bindung des formellen Verbrechensbegriffs bestehen, wird aber nicht auf das Strafrecht und seine Tatbestände beschränkt.
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Der soziologische Verbrechensbegriff stellt demgegenüber auf die Sozialschädlichkeit des Verhaltens ab. Danach stellen alle abweichenden bzw. sozialschädlichen25 Verhaltensweisen ein Verbrechen dar – unabhängig davon, ob sie strafrechtlich verboten sind. Umgekehrt verneint dieser Verbrechensbegriff das Vorliegen eines Verbrechens bei Verhaltensweisen, die zwar rechtlich verboten sind, aber nur aus moralischen Erwägungen sanktioniert werden. Ein interaktionistischer Verbrechensbegriff definiert demgegenüber nur solches Verhalten als Verbrechen, das von den Strafverfolgungsinstanzen bzw. der Gesellschaft als solches behandelt wird. Er erfasst also insbesondere nicht das Dunkelfeld.
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Eine abschließende Definition des Verbrechens im kriminologischen Sinne ist nicht möglich. Die verschiedenen Ansätze ermöglichen vielmehr unterschiedliche Perspektiven auf die zu erfassenden Verhaltensweisen und sind je nach Kontext hierfür besser oder schlechter geeignet. Entscheidend ist es, sich die Variabilität des Begriffs vor Augen zu führen und stets darauf zu achten, auf welchen Verbrechensbegriff sich die jeweilige Debatte stützt. In der kriminologischen Forschung ist dies häufig der formelle Verbrechensbegriff.
[12]IV. Strafe und Gesellschaft
Lektüreempfehlung: Brown, Michelle (2009): The Culture of Punishment. Prison, Society, and Spectacle. New York/London, 4-53.
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Strafe ist Bedürfnisbeschneidung in einem auf Erfüllung menschlicher Bedürfnisse gepolten Umfeld. Die Ambivalenz zwischen Übelzufügung und ihrem schieren Gegenteil, zwischen alltäglicher Praxis in Gefängnissen und Segregation der Gefangenen vom Alltagsleben markiert die Spannweite des Sozialen und reicht in die Wurzeln menschlichen Zusammenlebens. Die Übelzufügung durch Strafe ist durch die vorgängige Übelzufügung der Täter veranlasst; in dieser Kette gleichartiger Geschehnisse besteht die Logik der Vergeltung. Diese wird in unserer Kultur durch die protestantische Ethik des fleißigen Arbeitens26, die Herrschaftstechnik einer blutleer rationalen Staatsbürokratie27 und die punitiven medial gestützten Rufe nach Strafhärte28 untermauert.
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Strafende Vergeltung antwortet auf ein gesellschaftlich relevantes Geschehen und ist zugleich als angeblich zweckfreie Vergeltung von solchem Geschehen abgelöst. Vergeltung bestätigt die Annahmen individueller Wahlfreiheit und Verantwortlichkeit. Das Konzept reduziert damit die Komplexität interaktiver menschlicher Beziehungen auf einseitige Ursächlichkeiten. Rechtfertigungsversuche der Strafe gründen darauf und setzen sich so zu dem moralischen Anliegen, Gutes zu tun, und dem gesellschaftlichen Unterfangen der Integration in Widerspruch. Dem Anliegen des Gesellschaftsvertrags wird in Rehabilitationsversuchen Rechnung getragen. Das Verständnis der Straftat als „Bruch“ des Gesellschaftsvertrags, der exzeptionelle Massnahmen feindlicher Art29 erlaubt, stempelt die Bestraften zu „Anderen“, geradezu „ultimativen Fremden“, die sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt haben und deren Ausgrenzung deshalb förmlich zu bestätigen ist. Die Arbeit an Gefangenen scheint damit in Widerspruch zu stehen. Sie gedeiht in einem Klima der „aggressiven Solidarität“, in welchem wohlmeinende Reaktionen auf sich selbst zugestandene Fehltritte und harte Sanktionen gegen als bedrohlich empfundene Gesellschaftsfeinde zugleich vorhanden sind30. Obgleich durch Verständnis und Mitleid bestimmt, ist die Gefangenenarbeit eine Auseinandersetzung mit dem personifizierten Übel.
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Die durch das Vergeltungsbedürfnis begrenzte Behandlungsarbeit an Strafgefangenen integriert die Betrachter ebenso wie die exemplarische Präsentation von Kriminalitätsopfern in den Medien. Die darin zum Ausdruck kommende vermeintliche Bedrohung aller verflacht deren Unterschiede, schürt damit ein einheitliches Bedrohungsbild und facht so die aggressiven Emotionen der Gesellschaft an. Das Feuer der Emotionen richtet sich auf andere, die anders sind als wir selbst und denen wir deshalb zutrauen, dass sie uns zu Opfern machen.
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Opfer von Straftaten stehen im Zentrum des öffentlichen Interesses, soweit