Fälle und Lösungen zum Öffentlichen Recht. Joachim Wolf
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|1|Kapitel 1: Grundlagen
|3|I. Unterschätzte Bedeutung der Methodik der Fallbearbeitung für das Studium
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat gesagt: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“.[1] Dieser Satz enthält zwei für die juristische Fallbearbeitung wichtige Grundaussagen. Erstens kann der Mensch die Welt niemals in ihrer Gesamtheit erkennen, sondern immer nur „von Fall zu Fall“, das heißt in Form von Ausschnitten, die seiner eigenen Beobachtung und Erfahrung zugänglich sind. Zweitens ist die Anzahl möglicher Beobachtungsausschnitte, also auch die Anzahl der Fälle, schon für jeden einzelnen Menschen unendlich, eben weil es um die gesamte Welt geht. Nimmt man hinzu, dass es auf unserer heutigen Welt rund 7 Milliarden Menschen gibt und jedem einzelnen von ihnen unzählige Einzelfälle offenstehen, potenziert sich diese Vielfalt ins Unermessliche. Selbst wenn man sich nur auf strikt juristische Streitfälle beschränkte, wäre es von vornherein völlig utopisch, die Gesamtheit dieser Fälle erfassen zu wollen. Auch dem Gesetzgeber, der zur Lösung juristischer Streitfälle abstrakte Rechtsregeln aufstellt, ist eine solche gesamthafte Erfassung unmöglich.
Für die juristische Fallbearbeitung im Studium und im Examen folgt hieraus: ohne juristische Methodik ist die Fülle des ausbildungsrelevanten Rechtsstoffs nicht zu bewältigen. Juristische Methodik setzt sich zusammen aus einem am Gesetz ausgerichteten Denken, einer Bearbeitung von Streitfällen, die auf einschlägigen Gesetzesgrundlagen aufbaut, sowie einer am gerichtlichen Streitentscheidungsverfahren orientierten juristischen Argumentationsweise.
Die vorliegende Fallbearbeitungslehre für das Öffentliche Recht soll eine Grundlage dafür legen, diese Anforderungen mit überdurchschnittlichem Erfolg zu bestehen.
II. Was ist ein „Juristisches Gutachten“?
Ein juristisches Gutachten hat Antworten auf Rechtsfragen zu geben und die Gründe für diese Antworten darzulegen. Über die gutachterlich zu bearbeitenden Rechtsfragen geben der Sachverhalt und die mit ihm verknüpften streitigen Rechtsstandpunkte der Parteien Auskunft. Vom Sachverhalt ausgehend ist der gedankliche Weg (Methode = Weg) zu erarbeiten, der auf der Grundlage einschlägiger Gesetze und der Verfassung schrittweise über Zwischenergebnisse zur abschließenden Antwort auf die Fallfragen führt.
1. Konkreter Rechtsstreit (Rechtsfall)
Rechtsfälle entstehen aus Streitigkeiten über Vorgänge des täglichen Lebens, deren Folgen für betroffene Menschen bewältigt werden müssen, weil sie eine soziale Störung darstellen oder weil problematische Grundlagen für rechtliche Gestaltungsent|4|scheidungen – behördliche Genehmigungen, Verträge etc. – geklärt werden sollen. Rechtsfälle sind stets konkret, d.h. nach beteiligten Personen, Ort und Zeit streitauslösender Ereignisse und vorgegebener Sachverhaltssituationen individualisierbar. Bei den Sachverhaltsinformationen des Rechtsfalles handelt es sich durchweg um konkrete Angaben, mit denen einzelne streitige und fragliche Rechtsbeziehungen in individualisierter Form beschrieben werden. Dementsprechend stellen auch die hieraus abgeleiteten Rechtsfragen des Falles konkrete Rechtsfragen dar: bezogen auf individuelle Streitparteien in einer spezifischen alltäglichen Streit- und Entscheidungssituation.
Methodische Grundregel: durchgängige Fallbezogenheit
Alle gutachterlichen Ausführungen müssen einen Bezug zur Beantwortung der Rechtsfragen des konkreten Falles aufweisen, der gelöst werden soll. Das bedeutet umgekehrt, dass Ausführungen im Gutachten, denen der konkrete Fallbezug fehlt, methodisch fehlerhaft sind. Dieser – leider sehr verbreitete – Fehler wird nur bei folgender Vorgehensweise vermieden:
(1) Zunächst werden auf der Grundlage des Sachverhalts konkrete Rechtsfragen formuliert, die im Gutachten beantwortet werden müssen.
(2) Jede dieser im Rechtsstreit begründeten konkreten Rechtsfragen lässt sich im Sinne einer abstrakten Rechtsfolge verallgemeinern und einer gesetzlichen Regelung zuordnen, die die gesuchte Rechtsfolge enthält.
(3) Die für die gutachterliche Fallösung „einschlägigen“ Gesetze werden also über die gesetzliche Rechtsfolge durch ihre inhaltliche Verbindung mit den konkreten Rechtsfragen des Falles gefunden.
(4) Damit erweist sich das Gesetz als der methodische Leitfaden, der aufgrund seiner durchgängigen strukturellen Unterscheidung zwischen Tatbestand und Rechtsfolge innerhalb jedes Gesetzes die für die rechtliche Lösung des konkreten Streitfalles benötigte Verknüpfung der konkreten Sachverhaltsgegebenheiten mit der in der gesetzlichen Rechtsfolge zum Ausdruck kommenden abstrakt-generellen Rechtsregel liefert. Die im Gesetz formulierten Tatbestandsvoraussetzungen enthalten die abstrahierten Voraussetzungen, die im konkreten Fall erfüllt sein müssen, damit der Schluss auf die gesuchte gesetzliche Rechtsfolge rechtlich trägt.
(5) Wenn die konkreten Daten des Falles die abstrakten Tatbestandsmerkmale der gesetzlichen Regel erfüllen, dann ist die Schlussfolgerung des Gutachters auf die ebenfalls abstrakte gesetzliche Rechtsfolge begründet.
Das Gesetz dient bei dieser Vorgehensweise als rechtliche Erkenntnisquelle für die schrittweise zu erarbeitende Fallösung. Es liefert damit zugleich die abschließende Antwort auf die Fragen, welche konkreten Falldaten nach Maßgabe der gesetzlichen Tatbestandselemente für die Lösung relevant sind und welche Schlussfolgerungen aus ihnen für die gesuchte Fallösung mit Blick auf die gesetzliche Rechtsfolge gezogen werden dürfen.
|5|2. Gutachtenstil – systematische Suche nach dem Ergebnis
Im Unterschied zum Richter (Urteil) kennt der Gutachter das Ergebnis des Rechtsfalles nicht, wenn er mit der Begutachtung beginnt. Seine Arbeitsmittel sind