Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › VII. Die Charakteristika der traditionellen Gestalt der Verwaltung und des Verwaltungsrechts
VII. Die Charakteristika der traditionellen Gestalt der Verwaltung und des Verwaltungsrechts
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Die Entwicklung der Verwaltungssysteme in Europa erfolgte zyklisch: von gemeinsamen Grundlagen zu nationaler Ausdifferenzierung, anschließend von nationaler Ausdifferenzierung zu wachsenden Gemeinsamkeiten. Einige Phasen dieses Zyklus hingen überwiegend mit der Institutionengeschichte zusammen; andere waren mehr mit der allgemeinen Geistesgeschichte verknüpft. Wenn man die Pendelbewegungen genauer betrachtet, werden unter den vielen nationalen Spielarten vorherrschende Muster erkennbar.
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Das erste gemeinsame Merkmal ist die gewaltige Ausweitung exekutivischer Tätigkeit.[68] Recht und Ordnung („l’Etat gendarme“), danach zusätzlich Steuerung und Regulierung der Wirtschaft („l’Etat propulsif“) und später noch die Daseinsvorsorge („l’Etat Providence“) sind die gemeinsamen Aufgaben der verschiedenen Verwaltungssysteme in Europa. Die Verwaltung, die zunächst als ein Apparat aufgefasst worden war, um den Gehorsam der Subjekte gegenüber der Obrigkeit zu erzwingen[69] (der Bürger war „Untertan“ oder „administré“), wurde nun dafür verantwortlich, Dienstleistungen gegenüber dem Bürger zu erbringen. Als Folge des Kompetenzzuwachses der Parlamente und der damit zusammenhängenden Parlamentarisierung der öffentlichen Gewalt wurde die Perspektive ex parte principis durch diejenige der ex parte civis ergänzt, zum Teil gar ersetzt.
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Die Ausweitung der administrativen Funktionen geschah schrittweise, und zwar von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (wie im Falle Österreichs),[70] als nationale Parlamente nun auch die unteren Klassen der Gesellschaft repräsentierten und mehr Gesetze in den Bereichen Arbeitsschutz, Sozialwesen, Renten, Gesundheit, Beschäftigungsförderung oder Bildung verabschiedeten.[71] Die beiden Hauptantriebskräfte dieser Entwicklung waren die Parlamente und die Gerichte. Sie beeinflussten die Ausweitung der Verwaltungsaufgaben des Staates allerdings auf unterschiedliche Weise: Die Parlamente dehnten die Bereiche aus, für welche die Verwaltung zuständig sein sollte, während die Gerichte die Verwaltungspraxis rationalisierten, allgemeine Prinzipien aufstellten und die Regierungen dazu zwangen, im Einklang mit der rule of law zu handeln.
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Das zweite hervorstechende Merkmal eines ausgereiften Verwaltungssystems ist eine stete Spannung zwischen Politik und Verwaltung. Der Verwaltungsstaat ist ein Staat, in dem die politische Gestaltung letztlich der rule of law unterliegt, die mittels richterlicher Kontrolle durchgesetzt wird.[72] Die Hauptaufgabe der Verwaltung ist der Gesetzesvollzug.[73] Daraus ergeben sich sowohl politische als auch theoretische Implikationen. Die Auffassung, wonach den Behörden lediglich eine beschränkte Entscheidungsfreiheit zukommen darf, weil sie verpflichtet sind, die politischen Entscheidungen, die vom Parlament getroffen werden, umzusetzen, geht davon aus, dass der Verwaltungsapparat seine Legitimation vom Parlament erhält: Die Bürger wählen die Mitglieder des Parlaments; das Parlament verabschiedet dann die Gesetze, wodurch es an die Regierung und die Verwaltung Legitimation weiterreicht („Legitimationszusammenhang“).[74]
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Die positivistische Sicht, nach der das Verwaltungssystem das Gesetz passiv implementiert, billigt Beamten und Richtern nur in engen Grenzen einen eigenen Bewegungsspielraum zu. Ihre Aufgabe beschränkt sich auf die Auslegung der Gesetze, und das Verfahren, in dem das Recht interpretiert werden kann, ist wiederum selbst durch Gesetze reguliert. Die Gesetzesanwender können bei Fehlen einschlägiger gesetzlicher Bestimmungen auf Analogieschlüsse und allgemeine Rechtsprinzipien zurückgreifen. Diese mechanische, positivistische Herangehensweise ist jedoch mittlerweile weitgehend verdrängt.
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Eine wesentliche Komponente des Verwaltungsstaates ist ein Berufsbeamtentum, das für eine stabile Bürokratie steht, deren Angehörige nach dem Leistungsprinzip ausgewählt sind. Dieses Prinzip ersetzte das herkömmliche System der politischen Patronage und die venalité des offices, die Käuflichkeit der Ämter. Allerdings kennt das Prinzip der Neutralität der Verwaltung verschiedene Ausprägungen, von der „faceless figure“ des britischen öffentlichen Bediensteten, der vollständig aus dem politischen Betrieb ausgegliedert ist, bis zu der französischen hybriden Laufbahn des „haut fonctionnaire“ und des „cabinet ministeriel“, aber auch Figuren wie den deutschen Dualismus, der zwischen „Laufbahnbeamten“ und „politischen Beamten“ unterscheidet.
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Das Paradigma vom „Staat als Einheit“ ist das dritte gemeinsame Merkmal des Verwaltungsstaates. Dieses Paradigma beruht auf einem nationalen Zentrum bestehend aus Ministerien, Fachabteilungen und Dienststellen und weist verschiedene Varianten auf, von denen die einen mehr, die anderen weniger hierarchisch sind (mit Letzteren wird das Ziel verfolgt, eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Dienststellen und eine effizientere Aufsicht zu erreichen). Über ein gewisses Maß an zentralisierter Gewalt und einheitlichen Regelungen verfügen auch die dezentralisierten und föderalen Staaten, zumindest für fiskalische und militärische Angelegenheiten.
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Das Zentrum ist natürlich mit der Peripherie verbunden, um die zentrifugalen Kräfte unter Kontrolle zu halten und die Einheitlichkeit des Verwaltungsraums zu bewahren; dies gilt auch in kleinen Ländern wie der Schweiz.[75] Die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie kann verschiedene Formen annehmen: In einer stärker zentralisierten Form trifft das Zentrum die Entscheidungen, während die Peripherie diese ausführt („la chaine d’exécution descend sans interruption du ministre à l’administré“[76]). Eine dezentralisiertere Form gesteht der Peripherie die Ausübung eines gewissen Maßes an Selbstverwaltung zu.
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Die Beziehung von Zentrum und Peripherie zeichnet sich in fortentwickelten Verwaltungsstaaten durch zwei bedeutende Gegensätze aus: Je mehr die Verwaltungssysteme