Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
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Bisweilen werden tiefgreifende methodische Differenzen zwischen englischem und kontinentalem Rechtsdenken vermutet. Dagegen ist es für den europäischen Rechtsraum wichtig festzuhalten, dass sich die britischen hermeneutischen Praktiken im Umgang mit Rechtstexten nicht prinzipiell von denjenigen des Kontinents unterscheiden. Die besondere Bedeutung von Sir Edward Coke und Sir William Blackstone für das englische Recht beruht gerade darauf, dass sie die auf dem Kontinent entwickelten argumentativen Standards in die Common-Law-Tradition einführen.[142] Wohl aber ist der Eigenstand rechtswissenschaftlicher Konstrukte geringer als in der kontinentalen, insbesondere deutschen Tradition, und ein kryptoidealistisches Systemdenken hat sich im britischen Rechtsdenken nie etablieren können. Dies mag ein Grund sein, warum sich im britischen öffentlichen Recht leichter ein zukunftsweisender verwaltungsrechtswissenschaftlicher Pluralismus entfalten konnte.
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Wenn sich die Dogmatik als identitätsbildende Mitte der Verwaltungsrechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum anbietet, so sollte sie nicht in ihr verharren. Wichtige Anstöße hierzu, gerade im Anschluss an die anempfohlene emanzipatorische Identität, kommen aus dem Vereinigten Königreich. Gegen Diceys konservativ inspirierte Ablehnung des Verwaltungsrechts formiert sich eine nicht primär dogmatisch, sondern funktionalistisch und progressiv ausgerichtete Verwaltungsrechtswissenschaft an der London School of Economics and Political Science (LSE).[143] Dieser britischen Tradition ist ein Typus rechtswissenschaftlicher Beiträge zu verdanken, der das rechtliche Material prozessorientiert anhand genauer Analyse der tatsächlichen Probleme sowie Positionen der diversen Akteure und ihrer Einflussnahmen erschließt. Die Zweckmäßigkeit dieser Forschung verdeutlicht sich, wenn man den juristischen Diskurs als einen Unterfall des allgemeinen praktischen Diskurses begreift, der gerade im europäischen Kontext fließend aus dem Rechtsetzungsdiskurs in den Implementationsdiskurs übergeht. Es ist kein Zufall, dass dieser britische Modus des Umgangs mit dem unionsrechtlichen Material gerade unter den Praktikern des Unionsrechts so erfolgreich ist.[144]
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Die Verwaltungsrechtswissenschaft der LSE versteht das Verwaltungsrecht nicht allein als Schöpfung und Ausdruck des liberalen Rechtsstaates, sondern als Instrument gesellschaftlicher Reformen,[145] ähnlich wie es Jahrzehnte später Wissenschaftler wie Sabino Cassese oder Eberhard Schmidt-Aßmann und Wolfgang Hoffmann-Riem tun. Diese englische Debatte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist, ungeachtet ihrer Eigentümlichkeiten, Ausdruck einer bedeutenden Entwicklungslinie des Verwaltungsrechts und seiner Wissenschaft: eine den Bedürfnissen der komplexen Gesellschaft entgegenkommende, emanzipatorisch ausgerichtete administrative Einflussnahme auf soziale Prozesse. Bei aller Skepsis gegenüber hoheitlichen Steuerungsversuchen ist diese Orientierung unverzichtbar für eine zukunftsweisende Verwaltungsrechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum.[146] Eine solche politiknahe, prozessorientierte Verwaltungsrechtswissenschaft ist jedoch zu kombinieren mit spezifisch dogmatischen Ansätzen, die sektorübergreifende Bündelung und Systembildung leisten. Hierfür bietet sich eine verfassungsrechtlich inspirierte Durchdringung des europäischen Verwaltungsrechts an, die in den Verfahrensgarantien des Art. 41 GRC ihr dogmatisches Zentrum finden könnte[147] und nicht allein auf die Rationalisierung und Legitimation des geltenden Rechts, sondern auch auf seine Kritik und Fortentwicklung ausgerichtet ist.
Einführung › § 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin › III. Verwaltungsrechtswissenschaft als Teil des neuen ius publicum europaeum
1. Pluralismus
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Der gemeineuropäische Befund, wonach die praxisorientierte Dogmatik die Pflicht und darüber hinausgehende Fragestellungen die Kür in der Verwaltungsrechtswissenschaft bilden, erscheint nur zukunftsträchtig, wenn die Kür, wie in jeder guten Vorstellung, als unerlässlich begriffen wird. Aldo Sandulli zeigt anschaulich, dass die italienische Verwaltungsrechtswissenschaft der juristischen Methode nicht nur ihre Bedeutung, sondern auch ihren Niedergang im 20. Jahrhunderts verdankt. Sie vermochte neue Fragestellungen, Methoden und Wissensbestände kaum zu integrieren, so dass sie ihre Leitfunktion zunehmend verlor.[148] Sabino Cassese brachte in diesen Forschungskontext durch die intensive Rezeption angloamerikanischer Verwaltungsrechtswissenschaften und deutscher Organisationssoziologie ab den siebziger Jahren einen belebenden Innovationsschub ein, ähnlich wie in Deutschland ab den neunziger Jahren Wolfgang Hoffmann-Riem und Eberhard Schmidt-Aßmann. Für den Erfolg dieser Weiterung der Verwaltungsrechtswissenschaft ist es entscheidend, diese Öffnung disziplinintern zu etablieren, ohne dabei die dogmatische Arbeit zu beschädigen.
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Für die Sichtbarkeit einer nationalen Verwaltungswissenschaft im europäischen Rechtsraum wird es vor allem auf grundbegrifflich ausgerichtete dogmatische Arbeit sowie die interdisziplinär und theoretisch ausgerichtete Forschung ankommen. Anwendungsorientierte dogmatische Beiträge zu Einzelfragen insbesondere des mitgliedstaatlichen Rechts, das Gros der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Arbeit, ist hingegen in der Regel so eng mit dem spezifischen nationalen Rechtsmaterial verwoben, dass sie nur schwer zu rezipieren sind. Neben der dogmatischen Betrachtungsweise bedarf es wirkungsorientierter, aufgabenbezogener und nicht zuletzt kritischer Betrachtungsweisen des Verwaltungsrechts, die nicht nur mit technisch-juristischer Begrifflichkeit, sondern auch mit Skalierungen, Leitbildern, Typologien sowie einer Vielzahl von Methoden und Interessen arbeiten. Diese Pluralisierung hat transformatorischen Charakter: Danach bestimmt sich nämlich die Verwaltungsrechtswissenschaft nicht mehr über eine einzige Methode;[149] ein neokantianischer Wissenschaftsbegriff passt nicht mehr auf sie. Die Pluralisierung greift so die überkommene Identität des Faches an. Es soll nicht der einzige Angriff sein.
2. Identitätsprobleme und -arbeit
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In vielen Rechtsordnungen hat sich die Verwaltungsrechtswissenschaft durch die Konzentration auf verwaltungsrechtliches Material des jeweiligen Staates und in Abgrenzung zu anderen Disziplinen etabliert. Dies gilt in besonderer Weise in Rechtsordnungen, in denen, wie in Frankreich, Italien oder Spanien, strenge institutionelle Abgrenzungen bestehen, also von den Professoren eine strikte Fokussierung auf das Verwaltungsrecht erwartet wird. Aber auch in rechtswissenschaftlichen Traditionen mit offeneren Profilen, etwa im Vereinigten Königreich oder in Deutschland, hat das Fach ein Proprium im staatlichen verwaltungsrechtlichen Material gefunden, wie der weitgehend standardisierte Zuschnitt der disziplinprägenden Lehrbücher zeigt. Bereits die Konstitutionalisierung hat diese Trennung in Frage gestellt.[150] Im Zuge der Entwicklung des europäischen Rechtsraums bedarf es zudem einer rechtsordnungsübergreifenden Bearbeitung von verwaltungsrechtlichen Fragen. Angesichts der Bedeutung unionsrechtlicher Vorgaben in der verwaltungsrechtlichen Praxis der Mitgliedstaaten, selbst in der Schweiz,[151] sieht sich die praxisorientierte Verwaltungsrechtswissenschaft gezwungen, sich unionsrechtlich auszuweiten. Die Überwindung des staatlichen Gesichtskreises drängt auf eine Fortentwicklung, ja Transformation der traditionellen Identität des Faches; zwei Aspekte ragen heraus:
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Erstens steht eine Europäisierung der Identität im Rahmen eines neuen ius