dass es auf einer integrierten Wissenschaftskultur aufruhte. Im 19. Jahrhundert findet man in Deutschland sogar eine Wissenschaft des öffentlichen Rechts ohne staatsrechtliche Grundlage,[152] vergleichbar mit der polnischen Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert.[153] Ungeachtet eines entwickelten europäischen Verwaltungsrechts ist man heute von einer gemeinsamen Verwaltungsrechtswissenschaft in Europa weit entfernt. Dieser Band zeigt dies anschaulich. Obwohl auf der Grundlage eines einheitlichen Fragebogens entwickelt, fallen die Beiträge recht unterschiedlich aus, selbst unter kulturell und sprachlich verwandten Staaten wie Deutschland, Österreich und der Schweiz. Diese Unterschiede können nicht allein dadurch erklärt werden, dass individuelle Forscherpersönlichkeiten sie verfassten. Vielmehr zeigt sich in den Unterschieden die Vielfalt der nationalen Wissenschaftsstile und -kulturen. Einen europäischen Diskussions- und Rezeptionszusammenhang gibt es derzeit nur in Ansätzen, weil eben die meisten Verwaltungsrechtler sich in erster Linie mit Blick auf das jeweilige staatliche Verwaltungsrecht und die entsprechende wissenschaftliche Community begreifen. Dies kann als kollektive Ausrichtung für die Zukunft kaum überzeugen. Soll der europäische Rechtsraum den berechtigten Rationalitätserwartungen genügen, die im 20. Jahrhundert mit Blick auf das staatliche Verwaltungsrechts formuliert wurden, so bedarf es einer intensiven wissenschaftlichen Begleitung, die allein aus den nationalen Wissenschaftsräumen heraus nicht geleistet werden kann. Es bedarf einer europäischen wissenschaftlichen Community des Verwaltungsrechts, und eine solche Community verlangt eine entsprechende Identität ihrer tragenden Mitglieder. Der Weg dahin ist weit und mühsam: die Sprachenfrage, die Unübersichtlichkeit der Forschungs- und Publikationslandschaft, schlichtweg die Vielgestaltigkeit des europäischen Wissenschafts- und Rechtsraums.
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Zweitens ist im europäischen Rechtsraum eine verwaltungsrechtswissenschaftliche Identität, die sich in erster Linie aus einer Abgrenzung des verwaltungsrechtlichen Materials gegenüber verfassungsrechtlichem, unionsrechtlichem, aber auch privatrechtlichem und völkerrechtlichem Material bildet, kaum aussichtsreich. Die disziplinäre Positionierung der Verwaltungsrechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum sollte weniger durch die Bestimmung von Grenzen, und erst recht nicht durch die Fixierung einer Methode, sondern vor allem durch die Klärung ihres zentralen Interesses als Teil des öffentlichen Rechts erfolgen. Das öffentliche Recht findet, zumindest in freiheitlich-demokratischen Staaten, seine Mitte in der auf die Aufklärung zurückgehenden Idee der Freiheit und der daraus folgenden Spannung zwischen individueller Selbstbestimmung und kollektiver Handlungsfähigkeit. Als verwaltungsrechtlich sind unter diesem Verständnis in erster Linie solche Rechtsmaterien zu begreifen, welche die organisations-, verfahrens- und materiellrechtlichen Vorgaben bürokratischen Einwirkens auf private Rechtssubjekte regeln.[154] Die rechtsquellentheoretische Zuordnung zum Völkerrecht, Unionsrecht oder staatlichen Recht sollte hingegen in Zeiten der Interdependenz der verschiedenen Rechtsordnungen nicht mehr das primäre Kriterium disziplinärer Identität bilden.[155] Die Verwaltungsrechtswissenschaft sollte als unselbständiger Teil eines europäischen öffentlichen Rechts, eines ius publicum europaeum, betrieben werden, das sich aus staatlichen, suprastaatlichen und völkerrechtlichen Komponenten speist. Rigide Primäridentitäten wie Verwaltungsrechtler, Verfassungsrechtler, Europarechtler oder Völkerrechtler werden prekär. Es steht zu erwarten und zwecks einer problemadäquaten Wissenschaft gar zu hoffen, dass sie sich im europäischen Rechtsraum verflüssigen. Andere Identitätsgehalte wie ein besonderes Interesse an einem Sachgebiet (Sicherheitsrecht, Umweltrecht, Verfahrensrecht oder Rechtsschutz im Mehrebenensystem) oder einer bestimmten Aufgabenstellung (dogmatischer Systembau, Anwendungsdiskurse, eine bestimmte theoretische Forschungsrichtung) werden an Gewicht für das Selbstverständnis gewinnen. Eine Pluralisierung der Identitäten wird die Attraktivität der Wissenschaft stärken. Zugleich erscheint es für die Integration der Disziplin von hoher Bedeutung, dass die Disziplin eine Mitte behält. Nichts scheint mir dafür geeigneter als das dem „öffentlichen Recht“ zugrundeliegende Faszinosum hoheitlicher Macht in ihrer dialektischen Spannung zu individueller Selbstbestimmung.
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