Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
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Viele Fürsten richten im Prozess der Staatsbildung Universitäten ein und fördern eine ihren Herrschaftsanspruch stützende Rechtswissenschaft,[36] welche die kontinentaleuropäische Entwicklung einer „kompetenziell ausdifferenzierten, verschriftlichten, tendenziell normierten und bürokratischen sowie zunehmend verwissenschaftlichten Amtsführung“ begleitet.[37] Die Rechtswissenschaft an den fürstlichen Universitäten übernimmt die Sammlung und Ordnung des normativen Materials sowie die Ausbildung entsprechenden Verwaltungspersonals. Neben Dokumentation und Ausbildung tritt die Politikberatung: Professoren produzieren Schriften, welche der obrigkeitlichen Herrschaftsausübung Orientierung geben wollen. Es wird zum Staatszweck, mittels einer fähigen Zentralverwaltung Wirtschaft, Rechtssystem und Alltag der Bürger rational zu organisieren. Obwohl Frankreich das Staatsmodell vorgibt, ist die Wissenschaft des öffentlichen Rechts in Deutschland besonders entwickelt.[38] In diesem Rahmen setzen Kameralismus (Staatswirtschaftslehre) und später Policeyrechtswissenschaft europäische Maßstäbe.[39] Ein Grund hierfür ist die stärkere Verrechtlichung der Politik im föderal organisierten Heiligen Römischen Reich[40] im Vergleich zum absolutistischen Frankreich.
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Die Französische Revolution wird gemeinhin als große Zäsur begriffen.[41] Für das Sonderrecht des Staatsapparats bedeutet sie aber vor allem eine Radikalisierung vorheriger Entwicklungen. Die Französische Revolution und insbesondere Napoleon nehmen, wie Alexis de Tocqueville zeigt, die kontinentaleuropäische Tradition auf und vollenden sie.[42] Napoleon errichtet mit der Verfassung des Jahres VIII (1799) den Conseil d’État, die paradigmatische verwaltungsrechtliche Institution, als wesentliches Instrument seiner Herrschaft.[43] Der Sonderrechtscharakter wird zumeist an dem konsequenten Ausschluss der Kontrolle administrativer Maßnahmen durch die ordentlichen Gerichte fest gemacht. Dies ist aber nur ein Aspekt: Insgesamt verstärkt sich der durch das Sonderrecht organisierte staatliche Zugriff auf die Bevölkerung massiv.
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Die weitere Entwicklung des französischen Sonderrechts prägt die Ausbildung einer eigenen administrativen „Klasse“ mit staatsleitender Funktion, die ein spezifisches Rationalitäts- und Effizienzmodell verfolgt,[44] ähnlich wie später die politische EU-Bürokratie der Kommission. Diese Klasse, geführt durch die Mitglieder des Conseil d’État, verfügt über beträchtliche Autonomie selbst gegenüber der Regierung. Karl Marx wird sie polemisch in ihrem Eigenstand schildern, kann er sie doch nicht mit seiner Gegenüberstellung von Kapital und Arbeit fassen.[45] Die Räte des Staatsrats prägen das Verwaltungsrecht keineswegs nur durch ihre Entscheidungen; sie sind zugleich die Protagonisten der Verwaltungsrechtswissenschaft.[46]
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Die Dritte Republik beseitigt zwar den Autoritarismus des Zweiten Empire, nicht aber das Verständnis des Verwaltungsrechts als Sonderrecht und die Schlüsselstellung des Conseil d’État. In diesem Sinne versteht sich die Bedeutung des Blanco-Urteils des Tribunal des conflits als Gründungsmythos des zeitgenössischen französischen Verwaltungsrechts. Dieses Tribunal,[47] gegründet auf ein neues, republikanisches Gesetz von 1872, bestätigt das Verwaltungsrecht als Sonderrecht in der Verantwortung des Conseil d’État.[48] Als solches erscheint es als paradigmatisch für die Verwaltung eines starken Nationalstaates, dem sich viele Rechtswissenschaftler, nicht nur in Frankreich, verpflichtet fühlen. Angelpunkt des Sonderrechts ist und bleibt der Begriff der puissance publique. Der Versuch von Léon Duguit, den service public als neuen Begriff an die Stelle des Begriffs der puissance public zu setzen, hat in dessen Radikalität noch nicht einmal unter seinen Anhängern Erfolg.[49] Die Demokratisierung der Verwaltung, ja selbst später ihre Konstitutionalisierung mittels allgemeiner (Verfassungs-)Prinzipien und Grundrechte, heben keineswegs den Herrschafts- und Sonderrechtscharakter auf, sondern binden ihn in spezifische Regime ein. Jean Rivero hält 1953 klassisch fest: „[L]a ‚dérogation au droit commun‘ ne se fait pas à sens unique, mais dans les deux directions, opposées, du plus et du moins“.[50]
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Es gibt nirgends im europäischen Rechtsraum eine Verwaltungsrechtswissenschaft, die ihre Gründungsgeschichte ohne Blick auf dieses französische Verwaltungsrecht erzählt. Sabino Cassese formuliert prägnant: „Paris kommt für das Verwaltungsrecht die Rolle zu, die Rom für das Privatrecht innehat“,[51] was die fundamentale Bedeutung der Verwaltungsrechtsvergleichung belegt.[52] Allerdings führt diese keineswegs zu einer simplen Übernahme des zeitgenössischen französischen Systems, so dass die französische Verwaltungsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts kurzum als gemeinsame Grundlage einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft begriffen werden könnte. Dies zeigen eindrücklich die deutsche und die englische Rezeption, die für den europäischen Rechtsraum besonders bedeutsam sind, weil die deutsche, die englische und die französische verwaltungsrechtliche Tradition über besondere Prägekraft verfügen.[53]
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Sowohl das deutsche wie das englische Interesse gelten dem Sonderrechtscharakter des französischen Verwaltungsrechts. Dabei ist bemerkenswert, dass sich die deutschen und englischen Autoren am Ende des 19. Jahrhunderts weniger auf das ihnen zeitgenössische französische Verwaltungsrecht der Dritten Republik beziehen, sondern auf das des autoritär geprägten Zweiten Empire. Dies erleichtert es Albert Venn Dicey, die illiberalen Züge des droit administratif herauszustreichen und für das freiheitliche England als unpassend zu verwerfen.[54] Mancher britische Vorbehalt gegen das Unionsrecht, das, wie sogleich zu zeigen ist, Elemente eines Sonderrechts aufweist, mag dieser Tradition geschuldet sein. Otto Mayer hingegen kann mittels seiner Bezugnahme auf das französische Verwaltungsrecht des Zweiten Empire dem deutschen Verwaltungsrecht eine prononciert herrschaftliche Komponente geben.[55] Dieser deutsche wissenschaftliche Ansatz, der das Verwaltungsrecht als Sonderrecht auf den Lehren des deutschen Staatsrechts und der deutschen Privatrechtswissenschaft aufbaut, hat in vielen europäischen Rechtsordnungen großen Einfluss.[56]
aa) Sonderrechtscharakter des Integrationsrechts insgesamt?
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Eine Betrachtung der Entwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts im Lichte der Frühzeit des staatlichen Verwaltungsrechts fördert bemerkenswerte Parallelen zu Tage. Diese Parallelen zeigen, wie problematisch die legitimationserheischende Qualifizierung des Gemeinschaftsrechts als ein neues ius commune[57] sowie ein ähnlich ausgerichtetes verfassungsrechtliches Narrativ der Gemeinschaft[58] sind. Das herrschaftsorientierte Verständnis des Verwaltungsrechts als Sonderrecht der Exekutive[59] bietet ein alternatives und deutlich kritischeres Deutungsmuster zum Verständnis der unionalen Rechtsschicht im europäischen Rechtsraum, zunächst einmal als ein Sonderrecht der europäischen Integration insgesamt. Eine enge Verbindung zum französischen Recht besteht durchaus: Erinnert sei nur an die paradigmatische Rolle des Conseil d’État für den Europäischen Gerichtshof sowie an die jahrzehntelange französische Führung der europäischen Entwicklung.[60]
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Das Integrationsrecht schließt in den Mitgliedstaaten die Anwendung des allgemein anzuwendenden (sprich: mitgliedstaatlichen) Rechts aus.[61] Der Zugriff der gemeinen (mitgliedstaatlichen) Gerichte auf dieses neue Recht ist eng beschnitten. Nach Art. 274 AEUV bleiben zwar die Zuständigkeiten der