Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
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Die so genannte „Struktursicherungsklausel“ des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG zielt in erster Linie darauf, eine Kompatibilität der grundlegenden Verfassungsprinzipien auf Unionsebene und auf der Ebene des deutschen Verfassungsrechts zu gewährleisten. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG erklärt darüber hinaus den durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungskern für integrationsfest. Hat die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die positive Gestaltung der Verfassungsordnung der EU im Blick, so steht bei der Verfassungsbestandsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG die Abwehr von Verletzungen der nationalen Verfassungssubstanz im Vordergrund. Funktional dient dabei die durch Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG bewirkte indirekte Steuerung der Verfassungsentwicklung auf Unionsebene der Vermeidung von Konflikten, für die die absolute Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG relevant werden könnte. Der Sache nach wird insoweit auch den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 24 Abs. 1 GG entwickelten Integrationsschranken Rechnung getragen.
cc) Prozedurale Steuerung, insbesondere Föderalisierung der deutschen Integrationsgewalt
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Art. 23 GG soll ausweislich der Entstehungsgeschichte nicht zuletzt eine „Verschiebung der innerstaatlichen Gewichte zwischen Bund und Ländern“ verhindern, indem „die deutschen Mitwirkungs- und Wahrnehmungsrechte in Europa entsprechend der [...] Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern verteilt werden“.[120] Eine Stärkung der Position der Länder bedeutet es zunächst, dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU, anders als bei Art. 24 GG, nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG stets der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Bei Verträgen grundgesetzändernden Inhalts soll sogar das Verfahren der Verfassungsänderung gelten (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i.Vm. Art. 79 Abs. 2 GG), so dass das Zustimmungsgesetz eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat benötigt. Damit die Grundregel des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG (einfaches Zustimmungsgesetz) nicht leer läuft, ist Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG so zu verstehen, dass nicht jede Hoheitsübertragung, sondern nur solche von einigem Gewicht das Erfordernis verfassungsändernder Mehrheiten auslöst.[121] Freilich bleibt bei dieser Auslegung eine Zone der Unsicherheit, die im Falle eines fehlenden Konsenses der tragenden politischen Kräfte zusätzliches Konfliktpotential birgt.
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Abgesehen von der Beteiligung des Bundesrats bei der Verabschiedung der Vertragsgesetze zielt die Verankerung von Unterrichtungs- und Beteiligungsrechten des Bundesrates bei der Willensbildung in Angelegenheiten der EU auf eine prozedurale Effektivierung einer gebührenden Berücksichtigung der Belange der Länder. Die in den Absätzen 4 bis 6 geregelten Beteiligungsverfahren, die durch ein Ausführungsgesetz weiter konkretisiert werden,[122] sehen eine gestufte Intensität der Beteiligung vor. Danach hat die Bundesregierung neben den Stellungnahmen des Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 GG[123] auch solche des Bundesrates zu berücksichtigen; soweit es um Vorhaben im Schwerpunkt der Gesetzgebungsmaterien der Länder geht, steigert sich die Berücksichtigung in eine „maßgebliche“. Am weitesten geht die Beteiligung, wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind. In diesem Falle soll die Position der Länder nicht nur berücksichtigt bzw. „maßgeblich“ berücksichtigt werden, sondern nach Art. 23 Abs. 6 die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen werden, wobei allerdings die Wahrnehmung der Rechte in Abstimmung mit der Bundesregierung zu erfolgen hat.
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Die in Art. 23 GG vorgesehenen Beteiligungsverfahren wirken sich auf die Koordinierung und die Konsensbildung in der Mehrebenenpolitik freilich keineswegs nur fördernd aus, wenngleich die subnationalen Untergliederungen anderer europäischer Staaten, etwa die Autonomen Gemeinschaften Spaniens, die deutsche Lösung häufig loben. In der jüngsten Diskussion über eine Reform des deutschen Föderalismus zogen unter dem Gesichtspunkt der Europafähigkeit des Grundgesetzes gerade die Kooperationsregelungen des Art. 23 GG Kritik auf sich. Befürchtet wird insbesondere, dass die durch Art. 23 GG geforderten Abstimmungsprozesse die Handlungsfähigkeit der deutschen Vertreter im Rat beeinträchtigen und so letztlich der deutsche Einfluss im Hauptrechtsetzungsorgan der Europäischen Gemeinschaft sinke.[124] Dass solche Auswirkungen bereits festzustellen sind, wird freilich von Vertretern der Länder und des Bundesrates bestritten. In dem Maße, in dem die subnationale Ebene auch anderer europäischer Mitgliedstaaten ähnliche Wege der Einflussnahme auf die Entscheidungen des Rates suchen, dürfte die Länderbeteiligung als solche nicht mehr in Frage gestellt werden. Dies schließt freilich die notwendige Suche nach neuen, funktional geeigneteren Beteiligungslösungen keineswegs aus.[125]
b) Art. 24 GG
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Art. 24 Abs. 1 GG war als „Integrationshebel“ bis zur Einheitlichen Europäischen Akte Grundlage für die Verträge zur Gründung und Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaften. Mit der Einfügung des neuen Art. 23 in das Grundgesetz anlässlich der Entscheidung über den Maastrichter Unionsvertrag änderte sich die verfassungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage. Seither verdrängt Art. 23 GG als lex specialis in Unionsangelegenheiten die lex generalis des Art. 24 Abs. 1. Dieser behält seine Bedeutung für die Mitwirkung Deutschlands an anderen Organisationen, die mit Hoheitsrechten ausgestattet sind bzw. werden. Beispiele bilden die europäische Flugsicherungsbehörde Eurocontrol und die Europäische Patentorganisation, aber auch der Internationale Strafgerichtshof.[126]
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Mit der Grundgesetzänderung von 1992 wurde in Art. 24 GG auch ein Abs. 1a eingefügt, wonach die Länder in ihrem Kompetenzbereich mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen können. Die Schaffung solcher Einrichtungen wirft freilich, wenn sie Hoheitsbefugnisse gegenüber den Bürgern in Anspruch nehmen, erhebliche rechtliche Fragen auf, so etwa nach dem anwendbaren Recht, der demokratischen Legitimation der handelnden Organe oder nach dem Rechtsschutz der Bürger.[127]
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Neben Art. 23, Art. 24 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1a GG ist auch Art. 24 Abs. 2 GG Ausdruck der offenen Staatlichkeit. Er ermöglicht die Einordnung der Bundesrepublik in Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit, zu denen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[128] nicht nur Systeme gerechnet werden, die wie die Vereinten Nationen Verfahren zur Lösung von Konflikten der Mitglieder untereinander vorsehen, sondern auch Systeme, in denen sich die Mitglieder zum wechselseitigen Beistand im Falle eines äußeren Angriffs verpflichten, wie dies beispielsweise bei der NATO und der WEU der Fall ist.[129]
c) Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG
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Ein weiteres Element der „offenen Staatlichkeit“ stellt Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG dar, wonach der Gesetzgeber eine Auslieferung Deutscher an das Ausland dann vorsehen darf, wenn es sich um einen Mitgliedstaat der EU oder um einen internationalen Gerichtshof handelt und rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.[130] Diese Öffnungsklausel, die das bis dahin vorbehaltlos gewährleistete Auslieferungsverbot zugunsten Deutscher einschränkt, war im Hinblick auf die Unterzeichnung und anstehende Ratifizierung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs[131] in das Grundgesetz eingefügt worden. Auf sie stützte der Gesetzgeber auch das Europäische Haftbefehlsgesetz vom 21. Juli 2004,[132] das der Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 „über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten“[133]