Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
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b) Der Grundsatz menschenrechtskonformer Auslegung
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Allerdings kommt in dem Bekenntnis zu den Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG, der in Kenntnis der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verfasst wurde,[151] eine nicht nur programmatisch zu verstehende spezifische Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes zum Ausdruck. Aus ihr folgt, vergleichbar der Regelung in Art. 10 Abs. 2 der spanischen Verfassung oder Art. 10 der rumänischen Verfassung, das spezielle Gebot menschenrechtskonformer Auslegung.[152] Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1987 in diesem Sinne erstmals – freilich ohne seinerzeit Art. 1 Abs. 2 GG zu erwähnen – folgenden Grundsatz aufgestellt:[153] „Bei der Auslegung des Grundgesetzes sind auch Inhalt und Entwicklung der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt, eine Wirkung, die die Konvention indes selbst ausgeschlossen wissen will (Art. 60 EMRK). Deshalb dient insoweit auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.“ Im konkreten Fall ging es um die Herleitung der im Grundgesetz nicht explizit verankerten Unschuldsvermutung aus dem Rechtsstaatsprinzip. Die Interpretation dieses Prinzips im Lichte der EMRK, die ihrerseits durch die Rechtsprechung des EGMR konkretisiert wird, war eine wesentliche Argumentationsstütze.[154] Auf das Gebot konventionskonformer Auslegung rekurrierte das Gericht in den kommenden Jahren nur selten.[155] Erst im Jahre 2004 wurde der Argumentationsfaden vom Zweiten Senat in seiner Görgülü-Entscheidung vom 14. Oktober 2004 wieder aufgegriffen und erstmals festgestellt, dass das Grundgesetz „mit Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten einen besonderen Schutz“ zuweise; dieser bilde „in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG die Grundlage für die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen“.[156] Dies bedeutet durchaus eine dogmatische Untermauerung des gegenüber dem allgemeinen Grundsatz völkerrechtskonformer Auslegung nochmals verstärkten Gebots menschenrechtskonformer Verfassungsinterpretation.[157] Eine Nichtbeachtung der Konventionsrechte kann somit mittelbar, d.h. unter Berufung auf ein im Lichte der EMRK interpretiertes Grundrecht, durch Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden.[158]
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In der Öffentlichkeit und auch vom EGMR ist die Entscheidung „Görgülü“ freilich zunächst eher als problematisch, wenn nicht konventionsfeindlich wahrgenommen worden. Dazu gaben einige generelle Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts Anlass. So heißt es, das Grundgesetz verzichte „nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“, so dass es „nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit“ widerspreche, „wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“.[159] Und zur Verpflichtung der Staatsorgane, Entscheidungen des EGMR, durch die ein Konventionsverstoß festgestellt wurde, bei der erneuten Prüfung des Falles zu „berücksichtigen“, bemerkt das Gericht: „[…] die zuständigen Behörden und Gerichte müssen sich mit der Entscheidung erkennbar auseinander setzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen“.[160] Wenngleich das Bundesverfassungsgericht diese Aussage auf mehrpolige Rechtsbeziehungen bezogen wissen will, die vom Straßburger Gerichtshof wegen einer sich ändernden Tatsachengrundlage (begrenzte Rechtskraft) oder auch wegen der Nichtberücksichtigung von Grundrechtspositionen Dritter (nicht am Verfahren Beteiligter) nicht abschließend gewürdigt werden konnten, bleiben seine Ausführungen zumindest missverständlich. Sie scheinen den zuvor anerkannten Grundsatz der menschenrechtskonformen Auslegung des Verfassungsrechts – mit der entsprechenden Unterordnung des einfachen Rechts – erheblich zu relativieren.[161] Im Ergebnis hat das Bundesverfassungsgericht die mit der Verfassungsbeschwerde angefochtene Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg wegen nicht hinreichender Berücksichtigung der Entscheidung des EGMR für verfassungswidrig erklärt. Da das Oberlandesgericht, vermutlich durch die einseitig verstandenen Vorbehalte des Bundesverfassungsgerichts ermuntert, auch in Folgeentscheidungen im Widerspruch zum Straßburger Urteil judizierte, konnte das Bundesverfassungsgericht diesem erst nach mehrfacher Neubefassung zur Durchsetzung verhelfen.[162]
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Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weist deutlich auf das Problem hin, dass es bei mehrpoligen Grundrechtsbeziehungen, in denen die Grundrechtsbeeinträchtigung des einen zum Schutz von Grundrechten eines anderen vorgenommen wird, zu unterschiedlichen Bewertungen nicht aus Missachtung von Grundrechten, sondern gerade aus dem Antrieb zur Grundrechtsverwirklichung kommen kann. Stehen nach deutschem Recht zudem Grundrechtspositionen auf dem Spiel, die im Konventionsrecht nicht ausdrücklich anerkannt oder anders bewertet werden, kann es zu einem ohne Verfassungsänderung kaum lösbaren Konflikt kommen. Dies dürfte freilich ein äußerst selten zu erwartender Ausnahmefall sein. Denn im Rahmen der Schrankenbestimmungen der Konventionsrechte berücksichtigt und gewichtet der Straßburger Gerichtshof durchaus Rechtspositionen und Interessen, die nicht durch Konventionsrechte geschützt sind. So wird die Konventionsrechtsprechung auch bei mehrpoligen Grundrechtsbeziehungen in aller Regel eine mit der deutschen Grundrechtsordnung kompatible Linie vorgeben.
Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 14 Offene Staatlichkeit: Deutschland › IV. Entwicklungsperspektiven
IV. Entwicklungsperspektiven
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Der Grundgesetzgeber von 1948/49 hat mit der seinerzeit einzigartigen Öffnung der Staatlichkeit eine zukunftsweisende Entscheidung getroffen, die bis heute trägt. Dominierte anfangs der Eindruck einer nahezu bedingungslosen Öffnung für eine europäische Einigung, von der man die Rückkehr Deutschlands in die Staatengemeinschaft als vollberechtigtes Mitglied sowie die dauerhafte Sicherung des Friedens und der Freiheit erwartete, so wurden mit voranschreitender Integration und wachsendem Selbstbewusstsein die grundgesetzlichen Grenzen der Öffnung ausgelotet. Vor allem der mit dem Grundgesetz und seiner Konkretisierung durch die Verfassungsrechtsprechung erreichte hohe Grundrechtsstandard sollte gegen eine ausgreifende Gemeinschaftsgewalt verteidigt werden, auch wenn damit letztlich gemeinschaftsrechtliche Grundsätze in Frage gestellt wurden. Obwohl das Bundesverfassungsgericht seinen mit der viel zitierten Solange I-Entscheidung aus dem Jahr 1974 erhobenen Kontrollanspruch hinsichtlich des sekundären Gemeinschaftsrechts im Jahr 1986 erheblich abmilderte, hält es an einem