im Kreis der Verfassungsgerichte heute freilich keineswegs allein steht.[163] Der verfassungsändernde Gesetzgeber nutzte im Jahre 1992 die auf dem Weg zu einer politischen Union für notwendig gehaltene Erweiterung des Integrationsprogramms zugleich, den zuständigen deutschen Staatsorganen Direktiven für die weiteren Integrationsschritte vorzugeben. Orientiert an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dienen diese insbesondere dem Schutz der identifikationsstiftenden Grundlagen der deutschen Verfassungsordnung sowie einer der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland Rechnung tragenden Willensbildung in Angelegenheiten der Europäischen Union.
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Der im Jahre 1992 in das Grundgesetz eingefügte Art. 23 GG war nicht nur Grundlage für die Annahme der Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza, sondern hat auch die Möglichkeit der Weiterentwicklung der Europäischen Union durch den Europäischen Verfassungsvertrag eröffnet, da dieser an dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung festhält. Sollte der Europäische Verfassungsvertrag in Kraft treten, so wäre es noch schwerer vorstellbar, dass es überhaupt einen Anlass für eine Aktualisierung der Vorbehalte der deutschen Verfassungsrechtsprechung geben könnte. In dem Verfassungsvertrag sind nachdrücklicher als bisher diejenigen Prinzipien verankert, die, wenn nicht eine Kongruenz, so doch eine funktionale Äquivalenz zu den tragenden Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung aufweisen. Was die bislang hypothetische spätere Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in einen europäischen Bundesstaat anbetrifft, so wäre dieser Schritt nicht durch Art. 23 GG gedeckt. Nach zutreffender, freilich keineswegs unstreitiger Auffassung könnte dieser Schritt ohne eine Außerkraftsetzung des Grundgesetzes, d.h. durch eine entsprechende Grundgesetzänderung erfolgen.[164]
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Nicht befriedigen vermag die grundgesetzliche Regelung der Stellung des Völkervertragsrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung. Der einfache Gesetzesrang völkerrechtlicher Verträge entfaltet namentlich im Hinblick auf die dynamischen Menschenrechtssysteme, insbesondere das System der Europäischen Menschenrechtskonvention, Konfliktpotenzial, welches zwar durch das auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Gebot völkerrechts- bzw. menschenrechtskonformer Auslegung weitgehend entschärft wird. Um indes bei der Gesetzesanwendung eine effektive vorrangige Beachtung der EMRK sicherzustellen, erscheint es zweckmäßig, nicht nur das Völkergewohnheitsrecht, sondern im Wege einer Grundgesetzänderung auch das Völkervertragsrecht mit Übergesetzesrang auszustatten. Die überwiegende Zahl der Mitgliedstaaten der EU erkennt einen solchen Vorrang an. Es wird für die künftige Entwicklung darauf ankommen, dass die nationalen Verfassungsordnungen angesichts einer zunehmenden Vernetzung der nationalen, internationalen und supranationalen Rechtsregimes geeignete Verknüpfungs- und Koordinierungsmechanismen bereithalten.
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