Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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ee) Ausschluss direkter Demokratie
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Wichtig für das Verständnis einer Verfassung ist nicht allein, was diese positiv regelt, sondern auch, was bewusst ausgeschlossen wird. Das erweist sich bei der Nichtaufnahme direktdemokratischer Elemente wie Volksbegehren und Volksentscheid. Auch hier stützte man sich in den Beratungen auf Weimarer Erfahrungen. Doch handelte es sich insofern weniger um Lehren als um Legenden. Während der Herrenchiemseer Konvent zwar nur, aber immerhin noch für Verfassungsänderungen einen Volksentscheid vorgesehen hatte,[105] legte man im Parlamentarischen Rat von Anbeginn starke Betonung auf die (rein) repräsentative Ausgestaltung der Demokratie. Schon in einem sehr frühen Beratungsstadium hatte Theodor Heuss die suggestive Formel von Volksbegehren und Volksinitiative als einer „Prämie für jeden Demagogen“ geprägt.[106] Der Verzicht auf direktdemokratische Elemente jeder Art erfolgte einer ebenso verbreiteten wie unzutreffenden Einschätzung zufolge mit Blick auf die agitatorischen Praktiken der politischen Parteien in der Weimarer Republik einerseits, als Reaktion auf die so genannten Volksabstimmungen im NS-Staat andererseits.[107] Letztere dienten jedoch lediglich als Propagandainstrumente mit feststehendem Ausgang und scheiden als Argument gegen Volksentscheidungen im demokratischen Verfassungsstaat von vornherein aus. Aber auch die Berufung auf vermeintlich negative Weimarer Erfahrungen hält einer näheren Prüfung nicht stand: die Zahl der Volksentscheide war – auf Reichsebene – mit gerade zweien außerordentlich gering und auch die der Volksbegehren mit sechs nicht sonderlich hoch;[108] agitatorische Praktiken begegnen auch bei Wahlkämpfen und sind kein Spezifikum des Meinungsstreites bei Volksentscheiden; anderen Faktoren wie der fehlenden Verankerung der freiheitlichen Republik in den politisch, wirtschaftlich und kulturell führenden Schichten kommt für den Untergang Weimars erheblich größere Bedeutung zu als den direktdemokratischen Elementen. Für deren Ausschluss im Grundgesetz bieten angeblich „negative“ Weimarer Erfahrungen also keine tragfähige Basis.[109] Das gilt im Übrigen gerade auch, wenn man die entsprechende Praxis auf der Landesebene einbezieht.[110] Die tatsächlich entscheidenden Gründe für den Ausschluss direktdemokratischer Elemente dürften anderer, wesentlich zeitgeschichtlicher Natur gewesen sein.[111] Ansonsten wäre auch schlecht zu erklären, warum angesichts einer behaupteten historischen Lektion die vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen so gut wie ausnahmslos Verfahren der Volksgesetzgebung kannten und diese beibehielten.
ff) Integration der Parteien in das Verfassungsgefüge
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Mit der Skepsis des Grundgesetzes gegenüber der direkten Demokratie korrespondiert seine Anerkennung der politischen Parteien als Organe der Willensbildung im Repräsentativsystem (Art. 21 GG). Während die Weimarer Reichsverfassung Parteien lediglich in prononciert negativer Perspektive wahrgenommen hatte, indem sie Beamte als „Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei“ ansprach (Art. 130 Abs. 1 WRV), ordnet ihnen bereits der Herrenchiemseer Verfassungskonvent den seither unbestrittenen Status als Organe der politischen Willensbildung zu (Art. 47 Abs. 3 Satz 1 HChE).[112] Der Parlamentarische Rat ergänzt dieses Gerüst lediglich – auf Antrag des Zentrums – um die Rechenschaftspflicht über die Parteifinanzen.[113] Im Übrigen wird ein parteiübergreifender Konsens sichtbar, die Verfassung der Verfassungswirklichkeit anzupassen und deren Wendung zum vielzitierten Parteienstaat nicht länger zu ignorieren.[114]
c) Bestandssicherung der Verfassung
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Eine der hervorstechenden Eigenschaften des Grundgesetzes besteht darin, dass es über ein eindrucksvolles Arsenal von Instrumenten zu seiner „Bestandssicherung“[115] verfügt, von denen neben dem noch näher zu betrachtenden Vorrang der Verfassung (dazu unten, Rn. 85ff.) drei hervorgehoben seien.[116]
aa) Inkorporationsgebot (Art. 79 Abs. 1 GG)
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Art. 79 Abs. 1 GG schreibt vor, dass Verfassungsänderungen den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändern oder ergänzen müssen. Diese zumeist als Textänderungsgebot bezeichnete, treffender als Inkorporationsgebot zu benennende Norm dient nicht nur dem praktischen Zweck, das geltende formelle Verfassungsrecht in einer aktuellen Textausgabe des Grundgesetzes unschwer auffinden zu können. Der zugrunde liegende Gedanke der „Stringenz und urkundlichen Klarheit“[117] der Verfassung qua Verbot von „Auslagerungen“ auf andere Texte weist vielmehr den spezifischen Mehrwert auf, den Monopolcharakter der einen Verfassungsurkunde zu wahren und die Verfassungsgeltung insgesamt zu stabilisieren.[118] Der besonderen Bedeutung dieses formellen Aspektes waren sich die Schöpfer des Grundgesetzes bewusst. Ausdrücklich hatte schon der Herrenchiemseer Konvent darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit von Verfassungsänderungen ohne Verfassungstextänderungen „nicht unwesentlich zur Entwertung der Weimarer Verfassung beigetragen“ habe.[119] Die dort verbreitete Praxis der Verfassungsdurchbrechungen in Gestalt der Auslagerung verfassungsändernder Gesetze aus der Verfassungsurkunde wollte man vermeiden.[120]
bb) Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG)
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Auch Art. 79 Abs. 3 GG stellt eine Verfassungsschutzbestimmung dar – freilich keine formelle, sondern eine materielle. Mit dieser „Ewigkeitsklausel“,[121] die kaum Vorläufer kannte, erreicht die Bestandssicherungskomponente gleichsam ihren logischen Endpunkt, indem sie bestimmte Regelungsgehalte für normativ unantastbar erklärt und jeder Verfassungsänderung einer noch so überwältigenden Mehrheit entzieht. Dabei war man sich von Anbeginn klar darüber, mit dieser Norm revolutionäre Machtwechsel nicht ausschließen zu können; doch sollte ihnen die „Maske der Legalität“ entrissen (Dehler) bzw. der „Schutz der Scheinlegalität“ (C. Schmid) genommen werden.[122] Das war eindeutig auf die angeblich „legale“ Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und den Umstand gemünzt, dass es in Weimar vergleichbare Grenzen der Verfassungsrevision nicht gegeben hatte.[123] Jetzt dominierte der Gedanke, dass sich eine Verfassung nicht im Wege ihrer Änderung selbst sollte vernichten und dass eine revolutionär errichtete neue Ordnung nicht von der Legitimität der alten sollte zehren dürfen.[124] Art. 79 Abs. 3 GG zwingt zur offenen Ausweisung des Kontinuitätsbruches und zum Anbieten neuer, sinntragender Legitimitätsansprüche.
cc) Streitbare Demokratie (Art. 9 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2 GG)
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Gewissermaßen absolut setzt sich das Grundgesetz des Weiteren in seiner Ausprägung als „streitbare“ (auch: wehrhafte, abwehrbereite) Demokratie.[125] Diese Charakterisierung bezieht sich auf einige Normen, deren gemeinsames Schutzgut die freiheitliche demokratische Grundordnung[126] ist: Art. 9 Abs. 2 (Verbot von Vereinigungen), Art. 18 (Grundrechtsverwirkung von Einzelpersonen) und Art. 21 Abs. 2 GG (Verbot politischer Parteien); im weiteren Sinne zählt auch