Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › I. Der Ursprungskontext des Grundgesetzes › 4. „Ausländische“ Einflüsse und Rechtsvergleich
4. „Ausländische“ Einflüsse und Rechtsvergleich
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Auf regelrechte Verfassungsimporte aus dem Ausland war man bei der Schaffung des Grundgesetzes kaum angewiesen. Man konnte zu einem Großteil aus den Beständen der eigenen Verfassungsgeschichte schöpfen. Insofern stechen der stete Rückblick und partielle Rückgriff auf die Weimarer Verfassung ebenso hervor wie die große ausstrahlende Kraft der Paulskirchenverfassung.[132] Diese eigene Grundrechts- und Verfassungstradition verdankte sich freilich immer schon einem intensiven Rezeptionsprozess der revolutionären Verfassungsdokumente der amerikanischen und französischen Revolution,[133] an deren Tradierung und Weiterentwicklung man erheblichen Anteil hatte.[134] Es handelte sich insgesamt um einen Vorgang der Wiederaneignung des zwischenzeitlich fremd gewordenen Eigenen, nicht um die Adaption des nun zum ersten Male als richtig erkannten Fremden.
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Von anderer Art war die Einflussnahme durch die Besatzungsmächte, die man nur in einem sehr besonderen Sinne als „ausländisch“ ansprechen und sachlich treffender als Einfluss fremder Hoheitsgewalt in Deutschland charakterisieren könnte. In den weichenstellenden Entscheidungen für Grundrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Föderalismus konvergierten die deutschen Vorstellungen mit jenen der Besatzungsmächte. Schon von daher geht es in die Irre, das Grundgesetz als „Oktroi“ der westlichen Alliierten zu bezeichnen.[135] Die meisten Interventionen betrafen die Ausgestaltung des Bund-Länder-Verhältnisses und liefen letztlich auf einen Kompromiss hinaus. Andere gezielte Eingriffe dürften letztlich eher als Fortentwicklung deutscher Traditionslinien und weniger als Implantation ausländischer Rechtsinstitute zu begreifen sein.
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Als hervorhebenswert darf hingegen der intensive Rezeptionsprozess gelten, den die am 10.12.1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommene „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ im Parlamentarischen Rat erfahren hat. Die ihm vorliegenden Entwürfe entfalteten ein hohes Maß an Anziehungskraft und partiell auch an Vorbildfunktion. Nicht weniger als dreizehn Mal verweist Bergsträßers früh ausformulierter Vorschlag für einen Grundrechtskatalog auf das UN-Dokument in der seinerzeit vorliegenden Fassung,[136] etwa bei der Freiheit der Person und dem Schutz vor willkürlicher Verhaftung, dem Ausweisungsschutz von Fremden, der Glaubens- und Gewissensfreiheit oder dem Petitionsrecht. Auch wenn sich im weiteren Verlauf noch vieles veränderte, kam man auf die AEMR doch immer wieder zurück: häufig zur Bestätigung eigener Vorstellungen, seltener in bewusster Absetzung, zuweilen im Weg expliziter Anleihen. An solchen ausdrücklichen Übernahmen ist das Verbot willkürlicher Entziehung der Staatsangehörigkeit zu nennen, und auch bei der Formulierung der allgemeinen Handlungsfreiheit und des Rechts auf Leben spielte der UN-Entwurf eine Rolle. Am Schluss der Beratungen kam es dann noch einmal zu einem regelrechten Abgleich mit dem Grundgesetz, ohne dass man sich zu einer Übernahme der sozialen und kulturellen Bestimmungen der AEMR entschließen konnte.
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › I. Der Ursprungskontext des Grundgesetzes › 5. Zentrale Streitpunkte und schwierige Kompromisse
5. Zentrale Streitpunkte und schwierige Kompromisse
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Bei der Entstehung des Grundgesetzes herrschte von Anbeginn über wesentliche Grundlinien ein hohes Maß an Übereinstimmung. Ansonsten waren natürlich Formulierungen und Detailregelungen aller Art Gegenstand unablässigen Ringens. Wirklich harter und das Gesamtwerk beinahe gefährdender Streit entbrannte in den stark „weltanschaulich“ geprägten Fragen von Ehe, Familie und Schule sowie der Aufnahme staatskirchenrechtlicher Artikel (dazu a, b). Auch die föderale Problematik blieb ein „Dauerbrenner“ (c). Es ist bezeichnend, dass die bei der Schlussabstimmung im Parlamentarischen Rat abgegebenen Nein-Stimmen fast durchweg mit einem Dissens zu den hier letztendlich gefundenen Kompromissen begründet wurden.
a) Ehe und Familie, Schule und Elternrecht
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Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee hatte mit Rücksicht auf den provisorischen Charakter des Grundgesetzes und das vermutete geringe Konsenspotential Regelungen zu diesen Themenkomplexen nicht vorgesehen.[137] Im Parlamentarischen Rat trat vor allem die CDU-Fraktion für eine explizite Garantie von Ehe und Familie ein und begründete dies u.a. mit Hinweis auf eine entsprechende Regelung im UN-Entwurf für die AEMR. SPD und FDP verwiesen hingegen darauf, dass der Vorschlag[138] im Gegensatz zu den sonstigen Grundrechtsgarantien gerade keine unmittelbaren Rechtsfolgen entfalte und kulturelle bzw. soziale Fragen Sache der Länder seien.[139] Nachdem dann das „Ob“ einer solchen Norm konsentiert war, ging der Streit im Wesentlichen um ihre inhaltliche Ausgestaltung, konkret: ihre Ergänzung um den Schutz lediger Mütter und die Gleichstellung unehelicher Kinder, wogegen sich wiederum die Konservativen sträubten. Mit dem Schutzanspruch jeder Mutter (Art. 6 Abs. 4 GG) und dem auf einen Gesetzgebungsauftrag herabgestuften Gleichstellungsanspruch der unehelichen Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG) wurden schließlich im Redaktionsausschuss mehrheitsfähige Kompromisse gefunden.[140]
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Schulwesen und Elternrecht[141] wollten die großen Fraktionen zunächst einvernehmlich ungeregelt lassen, mussten das jedoch auf Druck der Kirchen hin revidieren.[142] Die folgenden scharfen Auseinandersetzungen, die bedrohlich für die Verabschiedung insgesamt wurden, konzentrierten sich auf das von den Konservativen als unverzichtbares Naturrecht begriffene und von SPD und FDP abgelehnte Recht der Eltern, über die religiös-sittliche Erziehung ihrer Kinder und die entsprechende Gestaltung der Schule selbst entscheiden zu dürfen.[143] Damit hing die ebenso kontrovers beurteilte Frage der Konfessionsschulen zusammen, für die Menzel (SPD) etwa die Zuständigkeit der Länder reklamierte, während Heuss (FDP) die Eingliederung der konfessionsverschiedenen Flüchtlinge erschwert sah. Der letztlich im Fünfer-Ausschuss ausgehandelte Kompromiss, wie er Gestalt in Art. 7 Abs. 1–3 GG gewann, hielt Abänderungsversuchen zur Stärkung des Elternrechts