Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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b) Staatskirchenrechtliche Artikel
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Als weiterer zentraler Streitpunkt schälte sich, wenig überraschend, die Frage heraus, ob und inwieweit das Grundgesetz überhaupt Regelungen bezüglich der Rechtsstellung von Kirchen und Religionsgesellschaften enthalten sollte. Der Herrenchiemseer Konvent hatte hierzu geschwiegen. Im Parlamentarischen Rat „prallten die weltanschaulichen Gegensätze so heftig und anscheinend unüberbrückbar aufeinander, daß zeitweise eine Gefährdung des gesamten Verfassungswerks zu besorgen war“[146]. Ähnlich wie schon in Weimar standen sich Vorstellungen der den Kirchen nahestehenden Parteien einerseits, der SPD und der KPD andererseits annähernd unversöhnlich gegenüber.[147] Die rechten Parteien strebten volles Selbstbestimmungsrecht, Ausschluss der Staatsaufsicht, Körperschaftsstatus sowie Garantien kirchlichen Eigentums und staatlicher Leistungen an, während die Linke auf eine deutliche Entflechtung von Staat und Kirche und deren Einordnung in das allgemeine Verbandsrecht zielte und darauf verwies, dass nach dem Vorbild der Kirchen auch andere soziale Gruppen (gemeint waren wohl die Gewerkschaften) Ansprüche auf entsprechend privilegierte Ausgestaltung ihres Tätigkeitsfeldes erheben könnten.[148] Wie in Weimar gaben letztlich die Liberalen den Ausschlag, indem sie die Übernahme des dort gefundenen Kompromisses und die Inkorporation der Weimarer Artikel in das Grundgesetz vorschlugen, was sich letztlich in Gestalt des Art. 140 GG durchsetzte.[149] Versuche, einzelne Regelungen herauszubrechen,[150] scheiterten; andererseits blieb auch der Hinweis der SPD, dass „alle anderen früher verfassungsrechtlich garantierten Rechte auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialordnung unter den Tisch“ gefallen seien,[151] ohne durchschlagenden Erfolg. Die noch einmal besonders schwierige und kontroverse Frage der Weitergeltung des Reichskonkordats und anderer staatskirchenrechtlicher Verträge wurde in Gestalt des Art. 123 Abs. 2 GG einer eher unbefriedigenden Lösung zugeführt.[152]
c) Föderalismus (insb. Zweite Kammer, Gesetzgebungskompetenzen, Finanzhoheit)
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So konsentiert die Grundentscheidung für die föderale Ordnung war, so umstritten war die Ausgestaltung im Einzelnen.[153] Selbst in den Parteien herrschten keine einheitlichen Vorstellungen. Gespalten war die CDU/CSU-Fraktion: die Vertreter der süddeutschen Länder favorisierten einen tendenziell staatenbündischen Ansatz, während Adenauer und die nord- und westdeutschen Verbände einen eher gemäßigten Föderalismus bevorzugten. Die SPD dachte traditionell stärker unitarisch. Vor allem die Rücksichtnahme auf die süddeutschen Länder führte letztlich zu einer im Vergleich zur Weimarer Verfassung länderfreundlicheren Ausgestaltung.
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Zwei Komplexe waren besonders umstritten. Zum einen handelte es sich um die Ausgestaltung der zweiten Kammer, wobei SPD und norddeutsche CDU für ein Senatsmodell amerikanischer Prägung votierten, die süddeutsche CDU/CSU sowie DP und Zentrum für einen am Vorbild des Kaiserreiches und Weimars orientierten Bundesrat mit weisungsgebundenen Vertretern der Landesregierungen.[154] Bei den legislativen Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundesrates strebte die CDU ein generelles Zustimmungserfordernis für Bundesgesetze an, während die SPD eine Blockadepolitik befürchtete und ein bloßes Einspruchsrecht favorisierte.[155] Der Kompromiss einer Differenzierung zwischen Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen geht ebenso auf den Fünfer-Ausschuss zurück wie die von Carlo Schmid später als „besonders glückliche Neuerung“ apostrophierte Einschaltung des Vermittlungsausschusses.[156]
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Ein ähnlicher Kompromiss beendete den langen und besonders intensiv geführten Streit um die Kompetenzordnung, insbesondere die Finanzverfassung.[157] Es war die gleiche Schlachtordnung: starke Bundeszuständigkeiten hier, ein Höchstmaß an Länderkompetenzen dort; einheitliche Bundesfinanzverwaltung auf der Grundlage weitgehender Bundessteuern auf der einen, mehr oder minder reine Landesfinanzverwaltung auf der anderen Seite. In einem fortgeschrittenen Stadium intervenierten die Alliierten und forderten eine Vorranggesetzgebung für die Länder sowie eine weitgehende Reduktion der Finanzkompetenzen des Bundes.[158] Doch letztlich kam es auch hier zu einem (freilich komplizierten und noch dazu mit Art. 107 GG a.F. vorläufigen) Kompromiss.[159] Nicht zufällig sind auf diesem Gebiet in den folgenden Jahrzehnten praktisch permanent Neuregelungen erfolgt.[160]
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › I. Der Ursprungskontext des Grundgesetzes › 6. Schlüsselfiguren und Schlüsseltexte
6. Schlüsselfiguren und Schlüsseltexte
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Das Grundgesetz entstand als Produkt einer Vielzahl politischer und sozialer Kräfte sowie alliierter Interventionen. Verfolgt man anhand der Dokumente den Verlauf der Beratungen, so stechen als zentrale Debattenredner Carlo Schmid, Theodor Heuss, Hermann v. Mangoldt, Ludwig Bergsträßer oder auch Adolf Süsterhenn hervor – um nur einige Namen ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu nennen.[161] Im Unterschied zum Prozess der Verfassunggebung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg gab es aber nicht die eine herausragende, alle anderen und das Gesamtwerk dominierende Person, wie es dort Hans Kelsen oder, um einen sehr kühnen Vergleich zu wagen, im revolutionären Frankreich der Abbé Sieyes war. Desgleichen fehlte es an einem zeitnahen Text mit Schlüsselfunktion, der wie beispielsweise die Federalist Papers in den USA für Verständnis und Auslegung des Verfassungswerkes zentrale Bedeutung hätte erlangen können. Charakteristisch war vielmehr der „rückwärtsgewandte“ Blick namentlich auf die Verfassungen Weimars und der Paulskirche sowie der Seitenblick auf andere Rechtsentwicklungen etwa auf internationaler Ebene. Zuweilen ging der Blick allerdings auch weit voraus, wenn man an die entschlossene Hinwendung zur internationalen Öffnung der Verfassungsordnung denkt,[162] wie sie in der Präambel mit ihrem Hinweis auf ein vereintes Europa sowie der Rezeptionsnorm des Art. 25 GG („Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“), vor allem aber mit dem wegweisenden, wenngleich ganz unpathetisch-nüchtern formulierten Art. 24 GG („Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen“) zum Ausdruck kam.[163] Für eine solche Bestimmung, seinerzeit ein absolutes Novum,[164] hatte sich namentlich Carlo Schmid stark gemacht mit dem Hinweis, man solle die „Tore in eine neu gegliederte überstaatliche politische Welt weit öffnen“[165].
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › II. Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis heute
II. Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis heute
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › II. Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis heute › 1. Verfassungsentwicklung in zweierlei Gestalt
1. Verfassungsentwicklung in zweierlei Gestalt
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Ungeachtet ihrer Fundierungs- und Stabilisierungsfunktion durchlaufen Verfassungen bestimmte Entwicklungen, verändern sich, werden umgebaut und müssen sich neuen Umständen anpassen. Das ist normal und unausweichlich. Stabilität bedeutet nicht Unveränderlichkeit. Offen und nicht zwingend vorgegeben aber ist, ob und inwieweit eine Verfassung solche Prozesse ihrerseits zu kanalisieren und zu institutionalisieren sucht. Die auf Bryce[166] zurückgehende begriffliche Dichotomie von flexiblen und rigiden Verfassungen unterschied vor allem danach, ob der