Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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Beim Grundgesetz handelt es sich wegen der „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG (siehe oben, Rn. 28) in gewisser Weise um eine besonders rigide Verfassung. Es kennt aber daneben selbstverständlich auch das förmliche Verfahren der Verfassungsänderung, von dem sehr häufig Gebrauch gemacht worden ist (dazu unten, Rn. 43ff.). Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es Fortentwicklungen der Verfassung ohne förmliche Textänderungen gibt. Solcher Verfassungswandel kann durchaus durchgreifende Folgen haben (dazu unten, Rn. 47). „Verfassungsentwicklung“ lässt sich so als Oberbegriff für formelle Verfassungsänderungen und stillen Verfassungswandel konzipieren.[168]
a) Förmliche Verfassungsänderungen
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Die einzige Erschwerung, die Art. 79 Abs. 2 GG für Verfassungsänderungen vorsieht, besteht im Erfordernis der Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat.[169] Diese Hürde erscheint nur auf den ersten Blick hoch. Denn da weitere Erschwernisse (besonderes Procedere, Referendum, Zeitintervalle etc.), wie sie die meisten anderen Verfassungsstaaten kennen, nicht vorgesehen sind, ist die Verfassungsänderung in Deutschland faktisch in die Hände der großen politischen Parteien gelegt. Sind sich diese einig, steht einer Verfassungsänderung nichts im Wege, da andere Sicherungen oder Korrekturmöglichkeiten fehlen.
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Nicht nur, aber auch aus diesem Grund hat sich das Grundgesetz als eine sehr änderungsintensive Verfassung erwiesen.[170] Wir zählen mittlerweile mehr als 50 Novellen von zum Teil außerordentlichem Umfang und mit weitreichendem Änderungsgehalt. Die statistisch gerundete Frequenz von einem Änderungsgesetz (mit häufig zahlreichen Bestimmungen) pro Jahr ist auch und gerade im internationalen Vergleich sehr hoch.[171] Man hat errechnet, dass das Grundgesetz nicht weniger als 200 Änderungen, Aufhebungen und Einfügungen erfahren hat und sein Textumfang um 50% gewachsen ist;[172] mehr als die Hälfte aller GG-Artikel war bislang Gegenstand eines grundgesetzändernden Gesetzes.
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Bevor man angesichts dessen jedoch allzu rasch vom Verfassungsrecht im „Loseblatt-System“[173] spricht, sollte man sich zunächst ganz generell in Erinnerung rufen, dass die Veränderungsintensität auch als Zeichen von Vitalität und effektiver Verfassungsbindung gelesen werden kann.[174] So bestätigen die Änderungen, dass die Verfassung „ihren Geltungsanspruch gegenüber der Politik nicht nur erhebt, sondern auch einlöst.“[175]
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Hinzu treten weitere Umstände, die den Eindruck eines permanenten Umbaus des Grundgesetzes, wie ihn der bloße Blick auf die Zahlen suggerieren mag, deutlich relativieren. So können zwei besonders umfängliche und einschneidende Änderungen, die Einführung der Wehrverfassung 1956 und der Notstandsverfassung 1968 (vgl. unten, Rn. 50ff.), als „nachgeholte Verfassunggebung“ begriffen werden. Hier wurden Bausteine in das Grundgesetz eingefügt, die Deutschland in Ermangelung voller staatlicher Souveränität 1949 noch nicht zur Disposition standen. Eine weitere große Reform, die Finanz- und Haushaltsreform von 1969 (vgl. unten, Rn. 55ff.), bildete die notwendige Korrektur der nicht zuletzt wegen alliierter Interventionen missglückten Regelung der Finanzverfassung. Schließlich muss man sich vor Augen halten, dass der Löwenanteil aller Änderungen auf das Verhältnis von Bund und Ländern, ihrer Kompetenzen im Bereich von Gesetzgebung und Verwaltung, der Zustimmungs- und Einspruchsgesetze etc. entfällt.[176] Föderale Reform ist eine Art Dauerbrenner: foedus semper reformandum. Oder anders gesagt: die Gestaltung der Beziehungen zwischen Bundesstaat und Gliedstaaten gleicht einer „Dauerbaustelle“[177].
b) Verfassungswandel
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Ebenso wenig wie jedes vergleichbare Gesetzes- oder Verfassungswerk ist das Grundgesetz gegen Änderungsprozesse gefeit, die auf anderen als den in Art. 79 GG vorgezeichneten Wegen eintreten. Der „stille“ Verfassungswandel[178] beschreibt den Prozess, in dem sich der inhaltliche Aussagegehalt von Verfassungsnormen ändert, ohne dass der Normtext einer förmlichen Revision unterzogen wird.[179] Es handelt sich um Sinnänderung ohne Textänderung.[180] Den Paradefall des Verfassungswandels unter dem Grundgesetz bildet die Entwicklung grundrechtlicher Wirkdimensionen, die über die tradierte abwehrrechtliche Konstellation weit hinausgehen (dazu näher unten, Rn. 140ff.). Bei den oft lapidar formulierten Grundrechten mit ihrem höchst komplexen ideen- und verfassungsgeschichtlichen Unterbau ist der Spielraum für interpretatorische Weiterungen und Anpassungen von vornherein sehr viel größer als bei den im Regelfall enger und präziser gefassten staatsorganisatorischen Normen. Hier lassen sich demzufolge deutlich seltener Prozesse eines (vom Bundesverfassungsgericht zu akzeptierenden, wenn nicht von ihm initiierten) Verfassungswandels ausmachen. Zu den wenigen Beispielen zählt die „angemessene Entschädigung“ gemäß Art. 48 Abs. 3 GG, bei deren Interpretation das Gericht eine im Laufe der Zeit eingetretene Änderung der Verhältnisse feststellte, derzufolge das Abgeordnetenmandat als berufliche Hauptbeschäftigung (und nicht länger lediglich als eine Art von Ehrenamt) und die Entschädigung im Unterschied zum Herkommen und den Vorstellungen des Parlamentarischen Rates als Vollalimentation (und nicht lediglich als Aufwandsentschädigung) zu begreifen sei.[181] Desgleichen lief die Grundsatzentscheidung zu den bewaffneten Auslandseinsätzen der Bundeswehr praktisch auf eine Verfassungsänderung hinaus, weil hier an den insgesamt eindeutigen Regelungen des Grundgesetzes vorbei eine außen- und verteidigungspolitische Leitung zur gesamten Hand von Regierung und Bundestag konstruiert wurde.[182] Die mehrfach nicht nur leicht variierte, sondern fundamental geänderte Judikatur zur Parteienfinanzierung mag als ein weiterer Grenzfall Erwähnung finden.[183]
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › II. Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis heute › 2. Hauptlinien der Verfassungsentwicklung
a) Verfassungskontinuität: Vom Provisorium zur Dauerlösung
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An die Spitze der Skizzierung der wesentlichen Entwicklungsschritte des Grundgesetzes gehört die Feststellung, dass es von der Verabschiedung im Jahre 1949 bis über die deutsche Wiedervereinigung hinaus eine durchgreifende, kontinuierliche Entwicklungslinie gegeben hat – vom Provisorium über ein Transitorium bis hin zur dauerhaften Verfassung. Als Provisorium galt das Grundgesetz den Ministerpräsidenten der Länder ausweislich ihrer Stellungnahme zu den Frankfurter Dokumenten ebenso wie den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates. Schon die Bezeichnung (eben nicht Verfassung, sondern „nur“ Grundgesetz) sollte dies zum Ausdruck bringen. Doch da das Grundgesetz den umfassenden inhaltlichen Regelungen nach durchaus eine (in Gestalt des Art. 79 Abs. 3 GG sogar besonders dauerhafte!) Vollverfassung war, konnte es in die Rolle eines wirklich tragfähigen und lebenskräftigen Staatsgrundgesetzes hineinwachsen.[184] Das erscheint umso bemerkenswerter, als die allgemeine Wertschätzung des Grundgesetzes als einer sehr gelungenen Verfassung heute zwar üblich ist, zu Beginn aber die kritischen Stimmen überwogen.[185] Im Falle des Grundgesetzes wandelte sich Fragilität in Stabilität,