Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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e) Verfassungstranszendierung: Europäische Integration als Entwicklungsfaktor und neuer Sinnhorizont
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Durch die Verfassungsänderungen im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung war u.a. Art. 23 GG aufgehoben worden. Es ist ein Vorgang von hoher Sinnfälligkeit, wenn nur zwei Jahre später der frühere Wiedervereinigungsartikel zum Europaartikel wurde.[239] Art. 23 n.F. GG regelt nunmehr in partiell überdetaillierter Weise Grund und Grenzen des europäischen Integrationsprozesses. Ergänzt und insbesondere den unionsrechtlichen Gegebenheiten angepasst wurden auch Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG (Kommunalwahlrecht für EU-Ausländer) und Art. 88 (Europäische Zentralbank); im Bereich der Staatsorganisation ist auf die Einfügung von Art. 45 (Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union) und Art. 52 Abs. 3a GG (Europakammer des Bundesrates) hinzuweisen.
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Die hierin sichtbar werdende fortschreitende Europäisierung des Grundgesetzes, zu der noch vielfältige Phänomene der Überlagerung und stillschweigenden Deutungsveränderung der grundgesetzlichen Normen ohne Textänderung hinzutreten,[240] markiert sicher den gewichtigsten und in seiner ganzen Tiefe noch immer nicht voll ausgeloteten Vorgang sukzessiver Transzendierung des nationalen Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Der Integrationsprozess war lange Zeit inkremental verlaufen und ließ die hohe Bedeutung für die Mitgliedstaaten und ihre Verfassungen nicht erkennen; möglicherweise wurde der grundstürzend neue Charakter auch durch die völkerrechtliche Fundierung der Genese und der Fortentwicklung der Gemeinschaft abgedunkelt. Doch spätestens seit dem Vertrag von Maastricht 1992 ist die heute gegebene intensive Verklammerung der nationalen Rechtsordnung mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht Gegenstand anhaltender und kontroverser Debatten. Unbestreitbar ist das Grundgesetz stärker denn je „eingebettet“ in die gesamteuropäische Verfassungsentwicklung.[241] Und mehr noch: dadurch, dass es Raum lässt für höherrangige öffentliche Gewalt in Gestalt der Europäischen Gemeinschaft, weist es gleichsam „über sich selbst hinaus“[242]. Man kann es paradox auch so formulieren, dass das Grundgesetz mittlerweile eine „europäische“ Verfassung ist.[243]
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Ein supra- wie internationaler Bezug zugleich kennzeichnet die im Jahre 2000 erfolgte Änderung des Art. 16 GG.[244] In Abweichung vom bis dahin strikt geltenden Verbot der Auslieferung Deutscher an das Ausland kann nunmehr bei Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze eine andere Regelung getroffen werden.[245] Das vom Deutschen Bundestag verabschiedete und einen einschlägigen Rahmenbeschluss des europäischen Rates umsetzende „Europäische Haftbefehlsgesetz“ wurde allerdings vom Bundesverfassungsgericht in vollem Umfang für nichtig erklärt.[246]
f) Jüngere Entwicklungen im Grundrechtsbereich
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Abgesehen von der Änderung des Art. 10 GG im Zuge der Notstandsgesetzgebung (vgl. oben, Rn. 54) hat es im Grundrechtsabschnitt lange Zeit zwar Klarstellungen und Erweiterungen, aber kaum deutlich sichtbare Restriktionen gegeben. Das änderte sich in den 1990er Jahren.
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Produkt langer und zäher parteipolitischer Kontroversen war zunächst der „Asylkompromiss“[247] zwischen CDU/CSU, SPD und FDP, der in das 39. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes mündete.[248] Der vor dem Hintergrund exorbitant gestiegener Asylbewerberzahlen bei gleichbleibend niedriger Anerkennungsquote und entsprechend intensiven Debatten gefundene Kompromiss bestand darin, dass in Art. 16a Abs. 1 GG das Individualgrundrecht auf Asyl weiterhin gewährt, in den folgenden Absätzen aber umfangreichen Einschränkungen unterworfen wurde.[249] Argumentationen, wonach damit die unantastbare Menschenwürde oder andere kraft der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG absolut geschützte Rechtsgüter verletzt würden,[250] hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht eine Absage erteilt.[251]
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Gleiches gilt im Ergebnis für die Erweiterung der Eingriffsmöglichkeiten in das Wohnungsgrundrecht (Art. 13 GG) im Jahre 1998.[252] Hintergrund für diese Grundgesetzänderung bildete die nach dem Ende des Kalten Krieges verstärkt registrierte „Organisierte Kriminalität“, der man mit den herkömmlichen polizeilichen Ermittlungsmethoden nicht mehr effektiv genug begegnen zu können glaubte. Nach üblichem, wenn auch problematischem Sprachgebrauch bietet namentlich Art. 13 Abs. 3 GG n.F. die Grundlage für den „Großen Lauschangriff“[253] zu Zwecken der Strafverfolgung. Die besondere Schwere des Eingriffs resultiert dabei aus der Kombination des Eindringens in die private Wohnungssphäre mit der Heimlichkeit dieses Vorgehens. Eben deswegen wurde teilweise die Vereinbarkeit mit Art. 79 Abs. 3 GG bezweifelt und angenommen, die akustische Wohnraumüberwachung verletze einen „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ und damit letztlich die in Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde.[254] Diese Argumentation verkannte freilich die Möglichkeit einer verfassungskonformen restriktiven Auslegung der neuen Bestimmungen auf Grundgesetzebene sowie ihrer konkreten Handhabung auf der Anwendungsebene.[255] Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Neuregelung zutreffend nicht als Verstoß gegen die Ewigkeitsgarantie gewertet, unter Rückgriff auf die problematische Vorstellung eines Kerngehalts der Grundrechte allerdings die Auslegung der Ermächtigungen und ihrer Anwendung in einer Weise angemahnt, die eine Verletzung des „unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung“ ausschließe.[256]
g) Stilbruch als Sachproblem
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Es fällt auf, dass einige der in den letzten anderthalb Jahrzehnten eingefügten Grundgesetz-Änderungen sehr umfangreich und außerordentlich detailliert geraten sind: der bloße Anblick von Art. 13, 16a, 23, 87e, 87f, 143a, 143b GG lässt das unmittelbar deutlich werden. Das ist schon aus stilistisch-ästhetischen Gründen unerfreulich, weil der Gesamteindruck des auf möglichst prägnante Aussagen hin angelegten Grundgesetzes leidet; ein Mangel an Verständlichkeit tritt hinzu.[257] Noch schwerer wiegt freilich, dass aus der Machtlogik parteipolitischer Kompromisse heraus Detailregelungen auf die Ebene des Verfassungsrechts hochgezont wurden und nunmehr kaum mehr zu ändern sind, obwohl hier ein flexibles Handeln des Gesetz- und Verordnunggebers geboten wäre. Diese Verwischung der Differenz zwischen der Verfassung und unteren Normebenen und die Vorwegnahme konkretisierender Gesetzgebungs- und Verordnungstätigkeit führt dazu, dass nun ein Politikwechsel ohne vorgängige Verfassungsänderung kaum mehr möglich erscheint.[258] Damit wird der Sinn der Verfassung als einer Grundordnung verfehlt. So zeigt sich, dass der in den genannten Normen zutage tretende Stilbruch gravierende Sachprobleme nach sich zieht.
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › II. Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis heute › 3. Zentrale Konfliktfelder
3. Zentrale Konfliktfelder
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Der Blick zurück auf die großen Etappen der Verfassungsentwicklung erweist, dass dem Grundgesetz bislang eine existenzbedrohende Krise erspart geblieben ist. Bürgerkriegsähnliche Szenarien, Putschversuche oder Staatsstreichdrohungen, wie sie die Weimarer Republik durchzogen, sind ebenso wenig zu verzeichnen wie als Verfassungsänderungen getarnte Neugründungen nach Art der V. Republik in Frankreich 1958 (dazu Jouanjan, § 2 Rn. 17ff.). Die Konflikte wurden im Rahmen der Verfassung und der dort vorgesehenen Wege ausgetragen, nicht extrakonstitutionell.
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