Einführung in das Verfassungsrecht der USA. Guy Beaucamp
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Überdies müssen die Verfechter der These, dass die ursprüngliche Wortbedeutung das entscheidende Auslegungsinstrument sei, eine Ausnahme für Präzedenzentscheidungen machen[23], die für die US-Verfassungsinterpretation indes eine zentrale Rolle spielen[24]. Diese Ausnahme reißt jedoch eine große Lücke in die Theorie.
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Es lässt sich ferner nicht zuverlässig sagen, dass die streng historische Wortlautinterpretation demokratischen Grundsätzen besser entspricht[25]. Wie ist mit Fällen von unglücklichen oder widersprüchlichen Formulierungen umzugehen, wenn die Absicht des Verfassungsgebers erkennbar ist? Warum sollte die heutige Bevölkerung streng an Überlegungen gebunden sein, die 200 Jahre zurückliegen?[26] Die originalistische Verfassungsinterpretation bevorzugt den Vergangenheitsbezug auf Kosten der Gegenwart[27].
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Als zentrales Argument gegen die Überbetonung des „original meaning“ erweist sich aber die Unterscheidung zwischen Regel und Prinzip. Viele Verfassungsbestimmungen wollen keine präzise Regel formulieren, deren genauer Wortlaut entscheidend ist, sondern eine Grundidee festlegen, etwa Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit oder ein faires Gerichtsverfahren[28]. Prinzipien sind grundsätzlich entwicklungsoffen, um die Flexibilität der Verfassung im Wandel der Zeit zu sichern[29]; diese Sichtweise dürfte auch eher der Intention der Verfassungsväter entsprechen[30]. Eine solche Bewertung der Auslegungsfrage passt ebenfalls besser zur generellen Aufgabe von Recht, das Zusammenleben von Menschen (in der Gegenwart) gerecht zu ordnen[31], also auch flexibel auf technische oder moralische Veränderungen zu reagieren[32]. Diese Perspektive ist in den USA ebenfalls vertreten, wie folgendes Zitat des früheren Verfassungsrichters William Brennan zeigt[33]: „But the ultimate question must be: What do the words of the text mean in our time? For the genius of the Constitution rests not in any static meaning it might have had in a world that is dead and gone, but in the adaptability of its great principles to cope with current problems and current needs.”
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Eine weitere Besonderheit der US-amerikanischen Verfassungsauslegung besteht darin, dass keine Protokolle der verfassungsgebenden Versammlung in Philadelphia 1787 existieren. Als historisches Dokument, welches die Anliegen der Verfassungsväter zumindest annähernd abbildet, werden die sogenannten Federalist Papers genutzt[34], das sind 85 ausführliche Zeitungsartikel aus dem Zeitraum von Oktober 1787 bis August 1788, die von James Madison, Alexander Hamilton und John Jay unter dem Pseudonym Publius verfasst wurden und insbesondere die Bürger in New York von den Vorzügen der neuen Verfassung überzeugen sollten. Noch in den Jahren 1990 bis 2010 zitierte der Supreme Court in mehr als 100 Entscheidungen aus dieser Textsammlung[35].
Anmerkungen
Kommers/Miller, S. 62 f.; Currie, S. IX.
So Scalia, S. 3, 37 u. 147; s.a. Amar (2018), XV, XXI.
Skeptisch in Bezug auf die Gesetzesmaterialien Scalia, S. 3, 29 ff.
Für die USA: Wood, S. 49, 62; Brugger, S. 11 f., S. 194 u. S. 198; für Deutschland: Jarass/Pieroth, Einleitung, Rn. 6-9; Glendon, S. 95, 105 f.; Kommers/Miller, S. 63; Sodan/Ziekow, § 2, Rn. 4 ff.; Grimm, ZfP 2019, 86, 95.
Lepsius, S. 319, 361 ff.; Collings, S. 273, 289 ff.; Kulick, JZ 2016, 67, 70.
Lepsius, S. 319, 352.
Scalia, S. 3, 38; darstellend Chemerinsky, S. 19 f. u. 22; Kulick, JZ 2016, 67, 72; Heringa, S. 9 f.; Tushnet, S. 253; Amar (2018), XV, XVI; Lepsius (2018), S. 149, 152 f.; Kischel, S. 82 f.; Winkler, S. 271.
Scalia, S. 3, 38.
Scalia, S. 3, 39 f.; Amar (2018), XV, XVI.
Scalia, S. 3, 40 f.; Calabresi, S. 151; Chemerinsky, S. 20 u. 23.
S. z.B. Chemerinsky, S. 20; Tribe, S. 65, 66; Lepsius (2018), S. 149, 154; Kulick, JZ 2016, 67, 71; Dworkin, S. 115, 122; Heringa, S. 9.
Scalia, S. 3, 45 f. u. 137.
Scalia, S. 3, 40 f.; Calabresi, S. 151, 155 ff.
Scalia, S. 3, 17 f., 20, 41, 132 u. 149.
Kulick, JZ 2016, 67, 71.
Kahn, Michigan Law Review 101 (2003), 2677, 2678; ähnlich Collings, S. 273, 284.
Kahn, Michigan Law Review 101 (2003), 2677, 2686 u. 2700; Dorf, S. 1, 4; Levinson, S. 124; kritisch Lepore, S. 787 f.
Ebenso Tushnet, S. 256.
Lepsius