Kriminologie. Tobias Singelnstein
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Doch Vorsicht: Wir sollten uns an die vom Kritischen Rationalismus bezeichneten Grenzen erfahrungswissenschaftlicher Realitätserfassung (→ § 3 Rn 6 ff.) und an die insoweit beschränkte Verwertbarkeit von am Erklärungsmodell [81] orientierten empirischen „Sozialdaten“ (→ § 3 Rn 12) für die praktische Kriminalpolitik erinnern, um diesen Gedanken nicht zu überzeichnen. Empirische Belege für theoretische Annahmen über das Zustandekommen, die Entwicklung und die Verbreitung kriminellen Verhaltens können die Kriminalitätsentstehung nicht definitiv „klären“. Empirisch erweisbar ist nur die Widerlegung, nicht die Bestätigung einer Theorieannahme. Die Erfahrungsübereinstimmung einer Hypothese besagt bloß, dass die Vermutung ihrer Wahrheit in den veranstalteten Erfahrungstests nicht entkräftet wurde, die Hypothese also in einem vorläufigen, mit prinzipiellen Irrtumsmöglichkeiten behafteten Sinne als bestätigt anzusehen ist. Kriminalätiologische Aussagen bleiben allemal Wahrscheinlichkeitsannahmen, deren „Wahrheit“ empirisch nicht endgültig beweisbar ist.
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Demgemäß ist es unmöglich, die „letztlichen“ oder „eigentlichen“ Ursachen der Kriminalität erfahrungswissenschaftlich auszumachen.6 Kriminalätiologische Theorien können nur Faktoren benennen, deren kausaler Zusammenhang mit kriminellem Verhalten einstweilen mehr oder weniger gut auf kontrollierte Beobachtung gestützt werden kann. Die Feststellung eines solchen Zusammenhanges lässt lediglich die probabilistische Aussage zu, dass bei bestimmten Ausgangsbedingungen die Wahrscheinlichkeit späteren Auftretens bestimmter Kriminalitätsphänomene größer ist als bei Fehlen dieser Ausgangsbedingungen. Nicht hingegen lässt sich daraus ableiten, die Kriminalitätsphänomene seien durch die Ausgangsbedingungen in einem strengen Sinne verursacht. Eine solche unzulässige Verwechslung von Korrelation mit Kausalität liefe auf den induktiven Fehlschluss post hoc, ergo hoc (weil Ereignis X nach Ereignis Y gehäuft auftritt, wurde Ereignis X durch Ereignis Y bewirkt) hinaus.
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Induktionen – also Schlüsse von erfahrungsgestützten Einzelaussagen auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten – sind nicht logisch zwingend. Wenn wir beobachten, dass Schwäne weiß gefiedert sind und Gefangene aus armen und zerrütteten Familien stammen, neigen wir zu generalisierenden Aussagen wie: Alle Schwäne sind weiß, sämtliche Strafgefangene entstammen armen und zerrütteten Familien. Solche Aussagen bezeichnen nicht Gesetzmäßigkeiten, sondern enthalten bloß einstweilen durch Erfahrung gestützte Hypothesen, die an neu zu gewinnender Erfahrung scheitern können. Mit der Beobachtung eines schwarzen Schwans oder der Feststellung, dass es Strafgefangene aus reichen und intakten Familien gibt, werden die vorläufig bestätigten Hypothesen widerlegt.7 Stets ist [82] mit der Widerlegung auf Erfahrung beruhender Annahmen über die Kriminalitätsentstehung zu rechnen. Die Suche nach den „eigentlichen“, „letzten“ Kriminalitätsursachen ist deshalb unnütz. Diese Frage zu stellen, hieße, mit Ursachen zu rechnen, die kriminelles – wie überhaupt menschliches – Handeln in einem zwingenden Sinne, nicht nur im Sinne statistischer Wahrscheinlichkeit, determinierten. Richtig verstanden, behaupten kriminalätiologische Theorien deshalb keine zwingende Determiniertheit kriminellen Verhaltens durch bestimmte Ursachen, sondern nur einen einstweilen unwiderlegten statistisch begründbaren Wahrscheinlichkeitszusammenhang von Kriminalität mit bestimmten Einflussfaktoren.
14 Diese Einsicht relativiert die Erklärungskraft entsprechender vor allem ätiologischer Theorien. Die Feststellung bestimmter Zusammenhänge schließt nämlich prinzipiell nicht aus, dass es andere Zusammenhänge im Sinne intervenierender Variablen8 gibt, die nicht geprüft wurden und die unter Umständen vom gewählten theoretischen Ausgangspunkt her gar nicht überprüfbar sind. Die Beobachtung, dass Kinder und Jugendliche mit großen Füßen statistisch über eine höhere Intelligenz als solche mit kleinen Füßen verfügen, lässt keinen Schluss von der Schuhgröße auf die Intelligenz zu, weil dabei das Alter als intervenierende Variable unberücksichtigt bleibt, das sowohl die Schuhgröße wie die Entwicklung der Intelligenz beeinflusst. Erfahrungsgestützte Theorien sind nichts weiter als Orientierungen des Verstandes, welche die freie Assoziation disziplinieren, indem sie diese in eine bestimmte Richtung lenken – und damit von anderen gleichermaßen konsistent verfolgbaren Denkrichtungen entfernen. Nicht die Theorien, sondern nur die mit Hilfe der Theorien erbrachten Erklärungen können wahr oder falsch sein. Erfahrungsgestützte Theorien erweisen sich bei der Anwendung als mehr oder weniger plausibel und brauchbar, um getätigte Wahrnehmungen zu interpretieren und sinnvolle Zusammenhänge zwischen Einzelbeobachtungen herzustellen.
III. Reichweite und Synthese der Theorien
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Genau genommen suggeriert der Begriff „Kriminalitätstheorie“ eine falsche Vorstellung. Er weckt die uneinlösbare Erwartung, die Kriminalitätsgenese mittels konsistenter empirisch überprüfbarer Theorieannahmen adäquat und umfassend darstellen und erklären zu können. Dies ist jedoch unmöglich, weil [83] die theoretische Wahrnehmung notwendig perspektivgebunden und eine endliche Menge von Wahrnehmungsperspektiven nicht nachweisbar ist. Je nach gewählter theoretischer Prämisse fallen das Abstraktionsniveau und die Reichweite der zu prüfenden Annahmen sowie die empirischen Prüfmöglichkeiten unterschiedlich aus. Die Unsicherheit bei der Beantwortung der eingangs (→ § 1 Rn 1 ff.) gestellten Frage: „Was ist Kriminalität und was ist daran erklärungsbedürftig?“ deutete die Problematik bereits an.
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Wegen der Unterschiede hinsichtlich Fragestellung, Abstraktionsgrad, Erklärungsreichweite und empirischer Prüfmöglichkeit sind die einzelnen Kriminalitätstheorien auch nicht ohne weiteres vergleichbar. Entgegen des begrifflichen Anscheins wollen und können Kriminalitätstheorien nicht die Kriminalität und die damit assoziierbaren Realphänomene in toto erklären, sondern weisen nur einzelne Zugangswege zu jeweils besonderen Aspekten des Kriminalitätsphänomens. Sie sind Anwendungen bezugswissenschaftlicher (→ § 1 Rn 4) Theorien auf das Problemfeld Kriminalität, von dem aus der gewählten bezugswissenschaftlichen Perspektive immer nur die jeweils fachimmanent zugänglichen Aspekte ins Blickfeld gelangen.
17 Für jede bislang vertretene Kriminalitätstheorie ist charakteristisch, dass sie weder notwendige Bedingungen kriminellen Verhaltens angibt, noch die von ihr angegebenen Bedingungen zur Erklärung des Auftretens kriminellen Verhaltens hinreichen. Wieso keineswegs jede Integration in eine deviante Subkultur kriminelles Verhalten auslöst, kriminelle Karrieren trotz gleichbleibend negativer Einflüsse mitunter unvermutet abbrechen, frühkindliche Fehlentwicklungen oder psychopathologische Auffälligkeiten großteils anders als durch Delinquenz kompensiert werden, lässt sich bislang ebenso wenig zulänglich beantworten wie unter welchen Randbedingungen ein Ladendiebstahl anomietheoretisch oder frustrationstheoretisch zu beantworten ist. Die Ableitung prognosetauglicher Aussagen aus kriminalitätstheoretischen Annahmen scheitert an der derzeit unüberwindlichen Schwierigkeit, die Zusatzvoraussetzungen erschöpfend und zugleich hinlänglich präzise zu benennen, welche die behauptete Stringenz der jeweiligen kriminalitätsindizierenden Faktoren erst herstellen.
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