Pitaval des Kaiserreichs, 5. Band. Hugo Friedländer
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Rechtsanwalt Dr. Victor Niemeyer (Essen, Ruhr), ein damals noch sehr junger Anwalt, der einige Wochen vorher mit großem Geschick vor dem Landgericht zu Aachen in Gemeinschaft mit dem verstorbenen Reichstagsabgeordneten Justizrat Lenzmann (Lennep) Mellage und Genossen wegen Beleidigung der Brüder des Aachener Alexianerklosters verteidigt hatte (siehe erster Band siehe »Die Geheimnisse des Alexianer-Klosters Mariaberg [Bruder Heinrich]«), war Verteidiger des Redakteurs Margraf und auch in dem Meineidsprozeß Schröder und Genossen vor dem Schwurgericht. Dieser glänzende Verteidiger, der schon damals in ganz Rheinland-Westfalen in allen Gesellschaftskreisen sich der größten Hochachtung erfreute und daher zweifellos selbst auf die Essener Geschworenen einen großen Eindruck gemacht hätte, wurde unbegreiflicherweise von den anderen Verteidigern als Zeuge in Anspruch genommen und somit von der Verteidigungsbank gedrängt, obwohl sein Zeugnis ganz belanglos war und obwohl ein Geschworener erklärte: Es ist durchaus nicht nötig, daß Herr Rechtsanwalt Dr. Niemeyer die Verteidigung niederlegt und als Zeuge auftritt. Wenn Herr Dr. Niemeyer etwas versichert, dann wird es von den Geschworenen geglaubt, ohne daß er es beschwört. Herr Rechtsanwalt Dr. Niemeyer gab sich die größte Mühe, das Wiederaufnahmeverfahren durchzusetzen. Endlich, nach fast vollen fünfzehn Jahren, im Frühjahr 1910, gelang es Herrn Rechtsanwalt Dr. Niemeyer, den Nachweis zu führen, daß der inzwischen verstorbene Gendarm Münter dem Alkohol ungemein gefrönt und in seiner Amtseigenschaft die ärgsten Ausschreitungen gegen harmlose, friedliche Bürger begangen habe. Es waren so viele Klagen über diesen gewaltigen »Hüter der staatlichen Ordnung« eingegangen, daß das Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet und auf Dienstentlassung erkannt wurde. Er war alsdann bei einer Gemeindebehörde in der Nähe von Berlin als Bureauarbeiter tätig. Es wurde auch der Nachweis geführt, daß der Mann sich mehrfach des wissentlichen Meineids schuldig gemacht hatte. Wenn er nicht vorzeitig gestorben wäre, dann wäre er wegen wissentlichen Meineids angeklagt und wohl auch verurteilt worden. Diese Vorgänge gaben endlich dem Oberlandesgericht zu Hamm Veranlassung, die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Schröder und Genossen zu beschließen.
Ende Januar bzw. in den ersten Tagen des Februar 1911 wurde vor dem Essener Schwurgericht der Meineidsprozeß Schröder und Genossen noch einmal verhandelt. In dieser Verhandlung ergab es sich, daß einige Angeklagte bereits verstorben waren, einer, der Bureaubeamte Johann Meyer, infolge der erlittenen Zuchthausstrafe in dauerndes Siechtum verfallen war. Die anwesenden Angeklagten waren sämtlich an Geist und Körper gebrochen. Die Verhandlung ergab die erschütternde Tatsache, daß die Angeklagten im August 1895 auf Grund der Aussagen eines gewalttätigen, verbrecherischen, ja meineidigen Beamten, der in kaltblütigster Weise vor Gericht wissentlich die Unwahrheit beschworen hatte, zu langjährigem Zuchthaus verurteilt worden sind. Unbegreiflich ist es, daß der damalige Gerichtshof den Wahrspruch der Geschworenen, die sich doch zweifellos zuungunsten der Angeklagten geirrt hatten, nicht aufgehoben und die Sache vor ein anderes Schwurgericht verwiesen hat. Ein solcher Gerichtsbeschluß ist mir im übrigen in meiner langjährigen Tätigkeit als Gerichtsberichterstatter nur ein einziges Mal, und zwar im Februar 1909 in dem Grünauer Mordprozeß vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin II vorgekommen. In diesem Prozeß wurde der Angeklagte von den Geschworenen des Mordes für schuldig befunden. Der Gerichtshof hob nach sehr langer Beratung den Wahrspruch der Geschworenen auf und beschloß, die Sache an ein anderes Schwurgericht zu verweisen, weil der Gerichtshof einstimmig der Überzeugung war, daß die Geschworenen sich zuungunsten des Angeklagten geirrt hatten. In der zweiten Verhandlung sprachen die Geschworenen den Angeklagten nach einer meisterhaften Verteidigungsrede des Justizrats Dr. Sello nur des Totschlags schuldig. Der Angeklagte wurde darauf zu 15 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Polizeiaufsicht verurteilt.
In einer der vornehmsten Straßen der bayerischen Residenz liegt das Maximilianstift, in dem alte Damen der besseren Gesellschaftskreise Aufnahme und Verpflegung finden. Leiterin dieses vornehmen Stifts war etwa zehn Jahre lang das schon an Jahren etwas vorgerückte Fräulein Elise v. Heusler. Diese Dame stand in dem Ruf, zu Klatsch- und Zanksucht zu neigen. Sie soll rachsüchtig und gehässig gewesen sein. Das Hauspersonal und auch die alten Stiftsdamen klagten vielfach über die Oberin. Am 1. Juli 1901 wurde die 25jährige Krankenpflegerin Minna Wagner von der Oberin als Helferin für das Maximilianstift engagiert. Sie war von der Oberin des »Krankenhauses rechts der Isar«, wo sie vier Jahre bedienstet war, empfohlen. Anfänglich erfreute sich die Wagner des größten Wohlwollens und Vertrauens des Fräuleins v. Heusler. Sehr bald soll sich aber das Wohlwollen in tödlichen Haß verwandelt haben. Die Oberin soll versucht haben, der Wagner den Aufenthalt im Maximilianstift in jeder Weise zu verleiden, um sie zu einer Kündigung zu veranlassen. Sie selbst wollte der Wagner nicht kündigen, weil letztere bei den Stiftsdamen als geschickte Pflegerin beliebt war. Es soll sehr oft zu heftigen Auftritten zwischen Fräulein v. Heusler und der Wagner gekommen sein, die Wagner kündigte aber nicht. Am 19. Juli 1902, einem Sonnabend, gab es wieder im Maximilianstift einen großen Krach. Es fehlten drei Flaschen Bier. Fräulein v. Heusler beschuldigte sofort die Wagner, die drei Flaschen »gestohlen und ausgesoffen« zu haben. Die Wagner erklärte darauf voller Entrüstung, sie werde sich im Ministerium über die Oberin beschweren. Diese Drohung soll die Oberin in große Bestürzung versetzt haben. Am folgenden Tage, Sonntag nachmittags gegen 2 Uhr, war der größte Teil des Hauspersonals ausgegangen. Um diese Zeit erhielt die Wagner von der Oberin Kaffee. Sie hatte die Gewohnheit, den Kaffee nur zur Hälfte zu trinken, den Rest in ihrer Kaffeetasse sich an einer bestimmten Stelle bis Abend aufzubewahren. Das tat sie auch an jenem Sonntag. Als sie gegen 6 Uhr abends den