Die Rückkehr der Zeitmaschine. Egon Friedell

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Die Rückkehr der Zeitmaschine - Egon  Friedell

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      DIE RÜCKKEHR DER ZEITMASCHINE

      Einleitung

Eine ungewöhnliche Korrespondenz

      Man wird bemerken, daß sämtliche Personen, die im Nachfolgenden das Wort ergreifen, an einem sonderbaren Defekt leiden: sie sind vollkommen unfähig, bei der Stange zu bleiben. Es hat dies seinen Grund darin, daß es sich durchwegs um Angehörige der sogenannten geistigen Berufe handelt. Diese unterscheiden sieh bekanntlich von den übrigen Menschen durch einen erstaunlichen Mangel an Konzentrationsfähigkeit. Man kann es geradezu als das Hauptmerkmal aller geistigen Arbeiter ansehen, vom Dichter und Metaphysiker mit ›Ewigkeitsgehalt‹ bis herunter zum Nachtreporter und Budenausrufer, daß sie stets vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Als gewissenhafter Berichterstatter fühlte ich mich jedoch verpflichtet, den Briefwechsel in dem vollen Umfang wiederzugeben, in dem er tatsächlich stattgefunden hat. Wer jedoch diese bisweilen fast an Gedankenflucht grenzenden Erörterungen ebenso deplaziert findet wie ich, möge sie und die ohnehin nur für rückständige Dickköpfe geschriebene ›Vorerinnerung‹ so rasch wie möglich überfliegen, um dann sogleich mit der gröberen, aber konsistenteren Nahrung zu beginnen, wie sie die Schilderung der Mißgeschicke und Abenteuer des Helden in den späteren Abschnitten bietet.

      Mr. H. G. Wells, London

      Wien, am 3. Februar 1908

      Hochgeehrter Meister!

      Ein begeisterter Verehrer, ja Verschlinger Ihrer sämtlichen Werke gestattet sich, eine bescheidene Anfrage an Sie zu richten, die Sie hoffentlich nicht allzusehr belästigt. Sie haben in Ihrem vor längerer Zeit erschienenen prachtvollen Roman Die Zeitmaschine einen Gelehrten geschildert, der mit einem Apparat seiner Erfindung in die vierte Dimension, nämlich in die Zeit, zu reisen vermag. Er versucht es zunächst nach vorne: in die Zukunft, und die Schicksale, die ihm dabei widerfahren, sind von Ihnen mit einer dichterischen Phantasie ausgesponnen, die jeden Leser entzücken muß. Er kehrt zurück, erzählt seine Erlebnisse, besteigt bald darauf wieder den Apparat, um in die Vergangenheit zu reisen und hier bricht der Roman ab. Sie sagen: »Der Zeitreisende verschwand. Und, wie jedermann heute weiß: er ist niemals zurückgekehrt. Wir können nichts tun als uns darüber wundern. Wird er jemals wiederkommen? Vielleicht ist er, als er in die Vergangenheit zurückwirbelte, unter die blutdürstigen behaarten Wilden der frühen Steinzeit geraten oder in die Tiefen des Kreidemeers oder unter die grotesken Saurier, die riesigen Eidechsenungetüme der Jurazeit. Vielleicht promeniert er eben jetzt – wenn ich mir überhaupt eine Vermutung erlauben darf – auf einem von Plesiosauriern bevölkerten Korallenriff oder am Ufer eines einsamen Salzsees der Triasperiode.« Die Stellen aus der ›Zeitmaschine‹ sind nicht in der deutschen Übersetzung zitiert, die sich im Buchhandel befindet, sondern neu übertragen. Auch der Briefwechsel ist in Übersetzung wiedergegeben, da er in englischer Sprache stattfand. Mr. Wells kann nämlich nicht Deutsch: dies dürfte die einzige Eigenschaft sein, die er mit seinem Übersetzer gemeinsam hat. Nun aber sind seit dem Erscheinen des Romans bereits einige Jahre verflossen, während deren ich oft und angestrengt über jene Reise in die Vergangenheit gegrübelt habe. Es gibt meiner Ansicht nach hier nur zwei Möglichkeiten. Entweder: in Ihrem Bericht steckt ein Körnchen Wahrheit: in diesem Falle wäre es doch immerhin denkbar, daß man von dem seltsamen Manne inzwischen Nachricht bekommen hätte. Oder aber: er ist überhaupt eine freie Erfindung Ihrer genialen Feder – warum zögern Sie dann solange mit der Fortsetzung der Erzählung, die doch nur von Ihrer Willensentschließung abhängt? Und es spricht alles dafür, daß diese letztere Annahme die zutreffendere ist: sogar das Verhalten des Zeitreisenden selber und noch mehr das seiner Umgebung. Der Zeitreisende sagt einmal: »Wenn Sie die ganze Wahrheit wissen wollen… ich glaube selber nicht recht an alle diese Dinge«, und ein andermal: »Nein, ich kann nicht verlangen, daß Sie das alles glauben. Nehmen Sie es für eine Lüge – oder eine Prophezeiung. Denken Sie: ich habe es in meinem Laboratorium geträumt. Kurz: nehmen Sie es als Roman; aber was halten Sie davon?« Und der ›Herausgeber‹ Mr. Blank (allem Anschein nach der klügste und seriöseste des Kreises) erwidert seufzend: »Wie schade, daß Sie kein Romanschreiber sind!« und erklärt auf dem Heimweg das Ganze für eine »amüsante Lüge«. Und ein Journalist, »ein ernster schüchterner Mann mit einem Bart, der den ganzen Abend lang den Mund nicht auftut« (Sie verschweigen seinen Namen leider ebenso wie den des Zeitreisenden), hüllt sich in vielsagendes Schweigen. Aber selbst gesetzt, es gäbe den Zeitreisenden, was ja trotz allem immer noch möglich ist, und er hätte seine Zeitreise wirklich vollführt, was mir nach allem mehr als unwahrscheinlich vorkommt: dann hätten Sie erst recht die Obliegenheit, alles, was Sie über ihn in Erfahrung bringen konnten, genau zu berichten, und wenn Sie nichts in Erfahrung bringen konnten, wenigstens dies zu berichten. Es ist das ganz einfach eine Pflicht gegen Ihre unzählbaren Bewunderer, zu denen ich zu zählen bitte.

      Ihnen sehr ergebenen

      Egon Friedell

      P.S. Bei dieser Gelegenheit erlaube ich mir, Sie auch um ein Autogramm zu ersuchen. Aber bitte keinen bloßen Namenszug, sondern einen schönen, recht langen Sinnspruch, der noch nicht im Druck erschienen ist.

      Herrn Egon Friedell, Wien

      London, am 11. Februar 1908

      Mein Herr!

      Ihre Hoffnung war trügerisch: Mr. Wells, in dessen Auftrag ich Ihnen schreibe, fühlt sich durch Ihre Anfrage sogar sehr belästigt. Er hält sie für nichts weniger als »bescheiden«. Gibt es etwas Anmaßenderes (als weibliches Wesen kann ich keinen stärkeren Ausdruck gebrauchen) als den Versuch, unter dem Deckmantel der Verehrung fremde Geheimnisse auszuspionieren? Und noch dazu in so manierloser Form! Denn die ebenso unüberlegten wie ungehobelten Ausdrücke: »bewundernswerte Phantasie«, »geniale Erfindung« und dergleichen, mit denen Sie im Zusammenhang mit Mr. Wells um sich zu werfen belieben, kann dieser doch nur als grobe und aufreizende Beleidigungen empfinden. Selbst wenn sie nicht von boshafter Absicht diktiert sein sollten, was ich in Ihrem Interesse annehmen will, zeugen sie von einer blamablen Verständnislosigkeit und sind jedenfalls geeignet, Mr. Wells aufs tiefste herabzusetzen. Auf solche Verehrer verzichtet Mr. Wells! Wofür halten Sie ihn eigentlich? Sie verwechseln ihn offenbar mit einem Politiker. Deren Beruf ist es, Tatsachen zu erfinden. Und wer erlaubt Ihnen, sein wissenschaftliches Protokoll einen Roman zu nennen? Da verwechseln Sie ihn mit seiner Köchin: die hat Phantasie, wie alle undisziplinierten Gehirne. Mr. G. B. Shaw, der ja bei Euch in Deutschland so beliebt ist, hat allerdings die traurige Kühnheit gehabt, Mr. Wells einen Romantiker zu nennen; er weiß aber nicht, daß er selbst ein unheilbarer Phantast und Lügenverbreiter ist, der unter der täuschenden Emballage des ›Realismus‹ eine neue Ideologie in unsere Literatur geschmuggelt hat. Oder vielleicht weiß er es sogar: das spräche für seine Intelligenz, aber auch für seine besondere Gefährlichkeit! Aber wie dem auch sei: Mr. Wells läßt Ihnen sagen, daß alle Dichter der Teufel holen soll! Poesie ist etwas für Kinder und Naturvölker, und selbst die Kinder sollte eine vernünftige Erziehung vor solchem Gift bewahren. Poesie verleitet zur Ungenauigkeit, zur Denkfaulheit, zur Unsittlichkeit. Wer sich systematisch daran gewöhnt hat, nicht bei der Stange der Wahrheit zu bleiben, ja wohl gar einen Ruhm darin erblickt, sie möglichst kühn zu überspringen, wird sehr bald auch in allen andern Dingen des Lebens die Gewissenhaftigkeit verlieren. »Wer lügt, der stiehlt« lautet ein altbekanntes Sprichwort; und in der Tat sehen wir, daß alle Dichter stehlen. Eure Klassiker haben unsern Shakespeare bestohlen, und er selber war der König der Diebe. Aber selbst wenn die Dichter gelegentlich einmal ihre eigenen Gedanken abschreiben, ist das noch immer ein sehr billiges Geschäft. Denn etwas zu erdichten ist hundertmal leichter als etwas zu entdecken, und etwas auszuspinnen ist hundertmal bequemer als etwas nachzuprüfen. Daher hält es Mr. Wells mit Plato, der die Lektüre Homers verbieten wollte, und mit unserem großen Philosophen Mr. Hume, der gesagt hat: Alle Bücher, die keine Angaben über Experimente oder Zahl, Maß und Gewicht enthalten, gehören ins Feuer! Mr. Wells findet die trockenen, aber soliden Ausgrabungsberichte Schliemanns unvergleichlich spannender als die temperamentvollen, aber unsachlichen Faseleien der Ilias und eine Logarithmentafel bedeutend origineller als die ganze Göttliche Komödie.

      Aus

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