Die Nilbraut. Georg Ebers
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Unter den dichten Baumkronen des schlummernden Gartens zog er ihre Hand an die Lippen, und sie ließ es bebend geschehen. — Schwere, schwere Jahre lagen hinter ihr. Des Arztes Ausspruch war nur zu wahr gewesen. Harten Schicksalsschlägen war für sie, die stolze Tochter eines großen Vaters, eine Reihe von peinigenden Demütigungen gefolgt. Das Leben der aus Mildherzigkeit im reichen Hause aufgenommenen, wenn auch nicht armen, so doch verlassenen Anverwandten war längst zu einem schweren Dornenpfad für sie geworden, aber vorgestern hatte sich das alles geändert. Orion war ja da! Wie ein schönes Schicksalsgeschenk hatten Haus und Stadt seine Heimkehr gefeiert, und auch ihr war ein reicher Anteil daran zugefallen. Nicht wie die verlassene Verwandte, sondern wie das herrliche, vornehme Weib, das sie war, hatte er sie begrüßt. Sonnenschein ging aus von seinem Wesen, und der drang ihr mitten ins Herz und ließ sie das Haupt wieder aufrichten wie eine Blume, die man wieder unter den freien Himmel stellt, nachdem ihr Licht und Luft lang entzogen. Sein frischer Geist und froher Lebensmut erquickten ihr Herz und Sinn, die Beachtung, die er ihr schenkte, stärkte ihr gesunkenes Selbstvertrauen und erfüllte ihre Seele mit warmem Dank. Ach, und wie köstlich schien es ihr, sich dankbar, innig dankbar fühlen zu dürfen! Und dann, dann war der heutige Abend gekommen, der schönste, herrlichste, den sie seit Jahren genossen. Er hatte sie wieder gelehrt, was sie beinahe vergessen, daß sie noch jung, daß sie noch sei, daß sie das Recht besitze, glücklich zu sein, Entzücken zu empfinden und zu erwecken, vielleicht sogar zu lieben und wieder geliebt zu werden.
Sein Kuß brannte noch auf ihrer Rechten, wie sie das kühle Zimmer betrat, wo Frau Neforis hinter ihrem Spinnrocken neben dem Lager ihres kranken Gatten, der sich immer in später Stunde zur Ruhe begab, der Heimkehrenden harrte. Mit übervollem Herzen drückte Paula die Lippen auf die Hand des Oheims, des Vaters Orions, — durfte sie sagen »ihres« Orion? Dann küßte sie — wie lange war dies nicht geschehen! — auch ihre Base, seine Mutter, während sie ihr mit der kleinen Maria eine gute Nacht wünschte; Neforis aber nahm ihren Kuß kühl und verwundert hin und blickte nur forschend auf sie und ihren Sohn. Gewiß kamen ihr dabei mancherlei Gedanken, doch hielt sie es für angemessen, ihnen fürs erste keinen Ausdruck zu geben. Als habe sich nichts Besonderes ereignet, ließ sie die Mädchen sich entfernen, überwachte sie die Leute, welche ihren Gemahl in das Schlafzimmer trugen, gab sie ihm die weißen Kügelchen, deren er, um zu schlafen, bedurfte, schob sie ihm mit unermüdlicher Sorgfalt die Kissen so lange zurecht, bis ihm seine Lage behagte. Dann erst, und nachdem sie sich überzeugt hatte, daß ein Diener im Nebenzimmer wache, verließ sie ihn und suchte — es lag Gefahr im Verzug — ihren Sohn auf.
Die große, starke, etwas schwerfällige Frau war in ihrer Jugend ein stattliches, schlankes Mädchen, eine vornehme Erscheinung, ihr etwas nüchternes und unbewegliches Antlitz dagegen nie hervorragend schön gewesen. Aber die Jahre hatten ihm wenig angethan, und es war jetzt ein hübsches, volles, kühles Matronengesicht geworden, das bei langjähriger, aufopfernder Krankenpflege die Farbe verloren. Ihre Geburt und Stellung verliehen ihr etwas Sicheres und Selbstbewußtes, doch lag nichts Gewinnendes, Anziehendes in ihrem Wesen. Andermanns Leid und Freud war nicht das ihre, aber sie konnte sich darum doch bis zur Aufopferung mühen und plagen, und ihr Herz war fähig, sich für andere bis zu leidenschaftlicher Glut zu erhitzen. Freilich mußten diese anderen ihre nächsten Angehörigen sein, und nur diese. So war denn eine treuere, sorgfältigere Gattin und zärtlichere Mutter schwer zu finden, aber wollte man das, was an Liebe in ihr lebte, mit einem Gestirn vergleichen, so reichten seine kurzen Strahlen nicht über ihre allernächsten Blutsfreunde hinaus, und diese empfanden es billigerweise dankbar als etwas Besonderes und Beglückendes, in dem engen Liebeskreis dieser unfreigebigen Seele Aufnahme gefunden zu haben.
Jetzt pochte sie an Orions Wohnzimmer, und er begrüßte den späten Besuch mit Ueberraschung und Freude. Sie kam, um Wichtiges mit ihm zu besprechen, und that es schon jetzt, weil Paulas und ihres Sohnes Benehmen von vorhin sie zur Eile zwang. Es war zwischen diesen beiden etwas vorgegangen, und die Nichte ihres Gatten stand weit außerhalb des engen Gebietes ihrer Liebe.
Es lasse sie nicht schlafen, leitete sie ihre Anrede ein. Sie habe einen Wunsch auf dem Herzen, und der Vater teile denselben. Orion wisse wohl, was sie meine; sie habe ja schon gestern mit ihm darüber geredet. Der Vater sei ihm liebreich entgegengekommen, habe seine Schulden gern und ohne ein tadelndes Wort bezahlt, und nun sei es an ihm, einen Strich über das alte, ungebundene Leben zu machen und einen eigenen Hausstand zu gründen. Die Braut, er wisse es ja, sei gefunden. »Vorhin,« sagte sie, »ist Susanna bei uns gewesen. Du, Bösewicht, sie gesteht es selbst, hast ihrer Katharina heute morgen das Köpfchen völlig verdreht!«
»Leider,« unterbrach er sie verdrießlich. »Dies Schönthun mit den Weibern ist mir geradezu zur Gewohnheit geworden; aber es soll von nun ab aus damit sein. ‘s ist meiner nicht mehr würdig, und jetzt, liebe Mutter, jetzt fühl’ ich...«
»Daß der Ernst des Lebens beginnt,« stimmte Neforis ein. »Eben dahin zielt auch der Wunsch, der mich zu Dir führt. Du kennst ihn, und ich wüßte nicht, was Du dagegen einwenden solltest. Kurz und gut, laß mich morgen die Sache mit Frau Susanna ins reine bringen. Ihrer Tochter Neigung bist Du gewiß, sie ist die reichste Erbin im Lande, gut erzogen, und, ich wiederhole es, sie hat Dir ihr Herzchen geschenkt.«
»Und sie mag es behalten!« lachte Orion.
Da rief die Mutter erregt: »Ich bitte Dich, Deine Heiterkeit für passendere Zeiten und komische Dinge zu sparen — ich mein’ es sehr ernst, wenn ich sage: Das Mädchen ist lieb und gut und soll Dir, so Gott will, eine treue, zärtliche Gattin werden. Oder hast Du etwa das eigene Herz in Konstantinopel gelassen? Sollte Dich die schöne Verwandte des Senators Justinus... Aber Thorheit! Du setzest doch wohl selbst kaum voraus, daß wir diese flatterige Griechin...«
Da umfaßte sie Orion und rief zärtlich: »Nein, Mütterchen, nein! Konstantinopel liegt weit, weit hinter mir in grauen Nebeln, jenseit der äußersten Thule; aber hier, hier, ganz nah’, im Vaterhaus hab’ ich etwas viel Schöneres und Vollkommeneres gefunden, als den Leuten am Bosporus je gezeigt worden ist. Die Kleine paßt nicht für einen Sohn unseres großen, breitschulterigen Stammes. Auch unsere künftigen Geschlechter sollen das gemeine Volk an Höhe in jeder Beziehung stolz überragen, und ich will kein Spielzeug zur Gattin, sondern ein Weib, wie Du es selbst in Deiner Jugend gewesen, ein hohes, vornehmes, schönes. Zu keiner Zaunkönigin, zu einer wahrhaft königlichen Jungfrau zieht mich das Herz. Was braucht’s da noch vieler Worte! Paula, die herrliche Tochter des edlen Thomas, sie hab’ ich gewählt! Vorhin ist es mir aufgegangen wie eine Offenbarung; für den Bund mit ihr bitt’ ich um euren Segen!«
Bis dahin hatte Frau Neforis den Sohn reden lassen. Was sie vernehmen zu müssen gefürchtet, frei und keck hatte er ihr’s zu hören gegeben. Und wie lang war es ihr gelungen, an sich zu halten! Jetzt aber war ihre Selbstbeherrschung zu Ende. Zitternd vor Aufregung schnitt sie ihm das Wort ab und rief mit hochgeröteten Wangen: »Nicht weiter, nicht weiter! Verhüte der Himmel, daß das, was ich da mit anhören mußte, etwas anderes ist als ein flüchtiger, närrischer Einfall! Hast Du denn ganz vergessen, wer und was wir sind? Weißt Du nicht mehr, daß es Glaubensgenossen der Melchitin waren, die Dir Deine beiden lieben Brüder, uns zwei blühende Söhne erschlugen? Was gelten wir unter den Griechen, den Orthodoxen! Aber unter den Aegyptern, unter allen, welche der seligmachenden Lehre des Eutyches anhängen, unter den Monophysiten sind wir die ersten und wollen es