Waldröschen I. Die Tochter des Granden. Karl May
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WALDRÖSCHEN I. DIE TOCHTER DES GRANDEN
1. Kapitel
»Oh, wende deine Strahlenaugen
Von meinem bleichen Angesicht;
Ich darf ja meinen Blick nicht tauchen
Zu tief in das verzehrend Licht. —
Wenn unter deiner Wimper Schatten
Der Liebe mächt‘ge Sonne winkt,
So muß mein armes Herz ermatten,
Bis es in Wonne untersinkt.«
Von den südlichen Ausläufern der Pyrenäen kommend, trabte ein Reiter auf die altberühmte Stadt Manresa zu. Er ritt ein ungewöhnlich starkes Maultier, und dies hatte seinen guten Grund, denn er selbst war von hoher, mächtiger Gestalt. Wer nur einen einzigen Blick auf ihn warf, der sah sofort, daß dieser riesige Reitersmann eine ganz ungewöhnliche Körperkraft besitzen mußte. Und wie die Erfahrung lehrt, daß gerade solche Kraftgestalten das friedfertigste Gemüt besitzen, so lag auch auf dem offenen und vertrauenerweckenden Gesicht dieses Mannes ein Ausdruck, der keinen Glauben an den Mißbrauch so außergewöhnlicher Körperstärke aufkommen ließ.
Sein blondes Haar und seine Züge berechtigten zu der Vermutung, daß er kein Südländer sei; doch war sein Gesicht von der Sonne tief gebräunt, und seine Augen hatten jenen scharfen, umfassenden und durchdringenden Blick, den man nur an Seeleuten, Präriejägern oder sehr weit gereisten Männern zu beobachten pflegt.
Er mochte vielleicht sechsundzwanzig Jahre zählen, doch sein ganzes Wesen atmete jene Ruhe, Erfahrung und Gewißheit, die den Menschen älter erscheinen lassen, als er ist. Seine nach französischem Schnitt gefertigte Kleidung war aus feinen Stoffen, aber bequem gearbeitet, und hinter dem Sattel war ein Reitfelleisen befestigt, das Dinge zu enthalten schien, die dem Reiter wertvoll waren, denn wie unwillkürlich griff er zuweilen danach, um sich zu überzeugen, ob es noch vorhanden sei.
Als er Manresa erreichte, war es bereits am späten Nachmittag. Er ritt durch die alten Mauern und engen Straßen, bis er die Plaza – den Marktplatz – erreichte, wo er ein neugebautes, hohes Haus bemerkte, über dessen Tür in goldenen Lettern zu lesen war,»Hotel Rodriganda«. Der Schärfe seines Rittes nach war zu vermuten, daß er gar nicht beabsichtigt hatte, in Manresa Einkehr zu halten; sobald er aber dieses Schild gelesen, lenkte er sein Tier in kurzem Trab nach dem Tor des Hotels und stieg ab.
Jetzt erst, als sein Fuß die Erde berührte, konnte man seine imposante Erscheinung voll bewundern. Wenn im ersten Augenblick das Herkulische seiner Figur außergewöhnlich erscheinen mußte, so war es doch sogleich die schöne Harmonie seines Gliederbaus, die jenen Eindruck milderte und neben der Bewunderung und Achtung eine freundliche Zuneigung erweckte.
Einige dienstbare Geister eilten herbei, um ihm behilflich zu sein. Er überließ ihnen sein Maultier und trat in den Raum, der für vornehmere Gäste reserviert zu sein schien. Dort befand sich nur ein einziger Mann, der sich bei seinem Eintritt höflich erhob.
»Buenas tardes – guten Abend!« grüßte der Fremde. – »Buenas tardes!« antwortete der Mann. »Ich bin der Wirt. Befehlen Eure Gnaden vielleicht eine Wohnung?« – »Nein, gebt einen Imbiß und eine Flasche Vinto regio.«
Der Wirt erteilte die betreffenden Befehle und fragte dann:
»So wollen Sie heute nicht in Manresa bleiben?« – »Ich reite noch bis Rodriganda. Wie weit ist es bis dahin?« – »Sie werden es in einer Stunde erreichen, Señor. Es sah aus, als ob Sie erst die Absicht hätten, an meinem Hotel vorüberzureiten.« – »Allerdings«, antwortete der Fremde. »Der Name Ihres Hotels hielt mich zurück. Warum nennen Sie Ihr Haus Rodriganda?« – »Weil ich längere Jahre Diener des Grafen war und es seiner Güte verdanke, daß ich mir dasselbe bauen konnte.« – »So kennen Sie die Verhältnisse des Grafen genau?« – »Sehr genau.« – »Ich bin Arzt und stehe im Begriff, mich ihm vorzustellen. Es wäre mir lieb, mich orientieren zu können. Wer sind die Personen, die man auf Schloß Rodriganda antrifft?«
Der Wirt schien, im Gegensatz zu seinen Landsleuten, ein menschenfreundlicher Mann zu sein. Vielleicht war es ihm auch lieb, in der einsamen Nachmittagsstunde eine Unterhaltung zu finden. Redselig antwortete er:
»Ich bin gern bereit, Ihnen jede Auskunft zu geben, Señor. Ich höre an Ihrer Aussprache des Spanischen, daß Sie ein Ausländer sind. Jedenfalls sind Sie von dem kranken Grafen herbeigerufen worden?«
Der Fremde wiegte den Kopf leise hin und her, als sei er zweifelhaft, welche Antwort er geben solle, dann meinte er:
»Es ist so ähnlich, wie Sie meinen. Ich bin ein Deutscher und heiße Sternau, war jedoch längere Zeit erster Assistenzarzt bei dem Professor Letourbier in Paris und wurde dort vor kurzem gebeten, schleunigst nach Rodriganda zu kommen.« – »Ach so! Vielleicht finden Sie den Grafen gar nicht mehr am Leben.« – »Warum?« – »Er ist seit längeren Jahren blind, unheilbar blind, wie die Ärzte sagen, und seit letzter Zeit hat sich auch ein arges Steinleiden bei ihm entwickelt, das neben seiner außerordentlichen Schmerzhaftigkeit schließlich lebensgefährlich wurde. Nur eine Operation kann ihm helfen. Er war bereit, sie vornehmen zu lassen, und rief zu diesem Zweck zwei der berühmtesten Chirurgen an sein Krankenbett, fand aber ganz unerwarteten Widerstand bei seiner einzigen Tochter, Condesa Rosa. Die Ärzte konnten jedoch nicht warten, und gestern hörte ich, daß heute der Schnitt vorgenommen werden sollte.« – »O wehe, so komme ich zu spät!« rief der Fremde, indem er emporsprang. »Ich muß schleunigst fort. Vielleicht ist es noch Zeit.« – »Schwerlich, Señor. Einen solchen Schnitt führt kein Arzt in der Stunde der Dämmerung aus. Übrigens ist es doch möglich, daß man noch gewartet hat, da die gnädige Condesa die Operation von Tag zu Tag verschieben ließ, obgleich die Ärzte, und besonders der Sohn des Grafen, keinen Aufschub gelten lassen wollten.« – »Der Graf Emanuel de Rodriganda-Sevilla hat einen Sohn?« – »Ja, einen einzigen; es ist Graf Alfonzo, der eine lange Reihe von Jahren in Mexiko gewesen ist, wo sein Vater höchst ausgedehnte und reiche Besitzungen hat. Er wurde jetzt nach Hause gerufen, um bei der Operation, die ja den Tod zur Folge haben kann, gegenwärtig zu sein. Graf Emanuel hat natürlich vorher sein Testament gemacht« – »Welche Personen sind außer dem Grafen und seinen beiden Kindern auf Schloß Rodriganda noch erwähnenswert?« – »Da ist zunächst Señora Clarissa, eine sehr entfernte Verwandte des Hauses. Sie ist Oberin des Stiftes der Karmeliterinnen zu Saragossa und zugleich die Duenja der jungen Gräfin, da dieselbe keine Mutter mehr besitzt. Schwester Clarissa ist sehr fromm, wird aber von Condesa Rosa nicht geliebt. Ferner ist da Señor Gasparino Cortejo, eigentlich Advokat und Notar hier in Manresa, der aber sehr viel auf Schloß Rodriganda verkehrt, weil er der Verwalter des gräflichen Vermögens ist. Auch er ist sehr fromm und dabei außerordentlich stolz. Ich könnte auch noch erwähnen den guten Kastellan Juan Alimpo und sein Frau Elvira, treue und brave Leute, die ich Ihnen empfehlen kann. Andere sind nicht zu nennen, da der Graf sehr einsam lebt.« – »Kennen Sie nicht den Namen Mindrello?« – »Oh, den kennt ein jedes Kind. Mindrello ist ein armer, ehrlicher Teufel, den man in Verdacht hat, daß er zuweilen ein wenig Schmuggel treibt; darum nennt man ihn gewöhnlich Mindrello, den Contrebandier. Aber Sie können ihm volles Vertrauen schenken. Er ist besser als mancher andere, der ihn verachtet.« – »Ich danke, Señor. Nach dem, was ich vernommen habe, darf ich mich nicht länger hier verweilen. Buenas noches – gute Nacht!« – »Buenas noches, Señor! Ich wünsche, daß Sie nicht zu spät kommen.«
Doktor Sternau bezahlte das Genossene, ließ sich sein Maultier vorführen, schwang sich hinauf und ritt im Galopp davon.
Der Tag neigte sich bereits zu Ende, so daß Rodriganda vor Einbruch der Dunkelheit schwerlich zu erreichen war. Während das Maultier leicht und flüchtig auf der Straße dahinjagte, griff der Reiter in die Tasche und zog ein zusammengefaltetes Papier hervor. Der Zustand desselben ließ vermuten, daß Sternau die darauf enthaltenen Zeilen bereits sehr oft gelesen habe, dennoch