Anna Karenina, 1. Band. Лев Николаевич Толстой
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Lewin seufzte und antwortete nichts; er dachte an seine eigenen Angelegenheiten und hörte Oblonskiy gar nicht.
Plötzlich aber empfanden sie beide, daß obwohl sie Freunde waren, miteinander diniert und Wein getrunken hatten, was sie beide doch noch mehr nähern mußte, gleichwohl ein jeder von ihnen nur mit seinen eigenen Dingen zu thun hatte, und den einen die Angelegenheiten des anderen so gar nichts angingen.
Oblonskiy war nicht zum erstenmale dieser vollständigen Trennung an Stelle der Annäherung, wie sie sich heute nach dem Diner zeigte, inne geworden, und er wußte, was bei solchen Gelegenheiten zu thun war.
„Zahlen!“ rief er und trat in den Nebensalon, wo er sogleich einen Bekannten, welcher Adjutant war antraf, mit dem er ins Gespräch über eine Schauspielerin und deren Freund geriet. In dieser Unterhaltung mit dem Adjutanten empfand Oblonskiy sogleich Erleichterung von dem Gespräch mit Lewin, der ihn stets zu einer allzu großen geistigen und seelischen Anstrengung veranlaßte.
Als der Tatar mit der Rechnung von sechsundzwanzig Rubel und einigen Kopeken erschien, zu denen noch ein Aufschlag für den Branntwein kam, verzog Lewin, den bei einer anderen Gelegenheit der Anteil seiner Rechnung von vierzehn Rubel als einen Landmann in Schrecken versetzt haben würde, keine Miene darüber, zahlte und begab sich dann nach Hause, um sich umzukleiden und zu den Schtscherbazkiy zu fahren, wo sich sein Schicksal entscheiden sollte.
12
Die junge Fürstin Kity Schtscherbazkaja zählte achtzehn Sommer. Im vergangenen Winter war sie zum erstenmal in der Öffentlichkeit erschienen und ihre Erfolge in der großen Welt waren größer, als diejenigen ihrer beiden älteren Schwestern, größer als die Fürstin selbst erwartet hatte.
Wenn schon die jungen Männer, die auf den Moskauer Bällen tanzten, fast sämtlich in Kity verliebt waren, hatten sich dieser bereits im Lauf der ersten Saison auch zwei ernste Partieen eröffnet, Lewin, und sogleich nach dessen Abreise der Graf Wronskiy.
Das Erscheinen Lewins zu Beginn des Winters, seine häufigen Besuche und seine offenbare Liebe zu Kity waren der Anlaß zu den ersten ernsten Auseinandersetzungen der Eltern Kitys über deren Zukunft, und zu Streitigkeiten zwischen dem Fürsten und der Fürstin.
Der Fürst war auf seiten Lewins; er sagte, daß er für Kity keine bessere Partie wünschen könne; die Fürstin aber, mit der den Frauen eigenen Gewohnheit, die Hauptfrage zu umgehen, war der Ansicht, daß Kity noch viel zu jung sei, Lewin noch in keiner Hinsicht bewiesen habe, daß er ernste Absicht hege, daß Kity keine Neigung zu ihm empfinde &c.; die Hauptsache aber sagte sie nicht, nämlich, daß sie auf eine noch bessere Partie für die Tochter warte, und daß Lewin ihr nicht sympathisch war, daß sie ihn nicht verstehe. Als Lewin unerwartet abgereist war, freute sich die Fürstin und sagte triumphierend zu ihrem Gemahl: „Siehst du, ich hatte recht.“
Nachdem Wronskiy erschienen war, geriet sie noch mehr in Freude, in ihrer Meinung bestärkt, Kity müsse nicht einfach nur eine gute Partie machen, sondern eine glänzende.
Für die Mutter gab es gar keine Möglichkeit einer Parallele zwischen Lewin und Wronskiy. Der Mutter gefielen an Lewin dessen seltsame, entschiedene Urteile nicht, seine Plumpheit in der vornehmen Welt, die sich, wie sie annahm, auf Stolz gründete und sein nach ihren Begriffen gleichsam wildes Leben auf dem Dorfe mit seinen Beschäftigungen in der Viehzucht, seinem Verkehr mit den Bauern. Auch dies gefiel ihr nicht sehr, daß er, obwohl in ihre Tochter verliebt, anderthalben Monat hindurch ihr Haus besuchte, als erwarte er etwas; ausschaute, als fürchte er, eine zu große Ehre zu erweisen, wenn er mit einem Antrag käme, und nicht begriff, daß man sich erklären müsse, wenn man ein Haus besuche, dessen Tochter heiratsfähig war. Plötzlich, ohne sich zu erklären, war er abgereist.
„Nur gut, daß er nicht zu sehr anziehend gewesen ist, daß Kity sich nicht in ihn verliebt hat,“ dachte die Mutter.
Wronskiy hingegen entsprach allen Wünschen derselben. Er war sehr reich, klug, wissend, im Begriff, eine glänzende militärische Hofcarriere zumachen, ein verführerischer Mann. Man konnte keine bessere Partie wünschen.
Auf den Bällen bewarb sich Wronskiy offen um Kity; tanzte mit ihr, besuchte das Elternhaus und es schien wohl kaum an dem Ernste seiner Absichten ein Zweifel obzuwalten. Aber nichtsdestoweniger hatte sich die Mutter den ganzen Winter hindurch in einem Zustande seltsamer Unruhe und Erregung befunden.
Die Fürstin selbst war vor dreißig Jahren auf die Werbung einer Tante hin in den Stand der Ehe getreten. Ihr Bräutigam, den man schon von vornherein recht wohl kannte, hatte die Braut erblickt, man hatte auch ihn gesehen, die Tante hatte alles erkannt und die wechselseitigen Eindrücke mitgeteilt; diese lauteten günstig und an einem vorherbestimmten Tage wurde den Eltern die erwartete Erklärung gemacht und von ihnen acceptiert. Das alles war äußerst leicht und einfach vor sich gegangen; wenigstens schien es der Fürstin so. Aber an ihren Töchtern hatte sie erfahren, daß es gar nicht so leicht und einfach sei, was so gewöhnlich schien, das Unternehmen, Töchter zu verheiraten. Wie viel Befürchtungen wurden da nicht durchlebt, wie viel Gedanken durchdacht, wie viel Geld verloren, wie viel Zusammenstöße gab es mit ihrem Manne betreffs der Aussteuer der beiden ältesten Töchter, Darjas und Natalys. Jetzt, bei dem ersten Auftreten der jüngsten, durchlebte man die nämlichen Befürchtungen, die nämlichen Zweifel, den nämlichen Streit, diesen aber nur noch größer, als er es bei den älteren Töchtern gewesen war.
Der alte Fürst war, wie alle Väter, besonders feinfühlig in Bezug auf die Ehre und Makellosigkeit seiner Töchter; er war rücksichtslos eifersüchtig auf diese und namentlich auf Kity, die sein Liebling war. Auf jeden Schritt hin verursachte er der Fürstin Scenen, weil sie die Tochter kompromittiert haben sollte. Die Fürstin hatte sich daran gewöhnt, schon von ihren älteren Töchtern her, jetzt aber fühlte sie, daß die Empfindlichkeit des Fürsten eine tiefere Berechtigung besaß.
Sie bemerkte recht wohl, daß sich in den letzten Zeiten vieles in den Manieren der Gesellschaft verändert hatte, daß die Pflichten einer Mutter schwierigere geworden waren. Sie sah, daß die Altersgenossinnen Kitys Cirkel hielten, sich an Kursen beteiligten, freier mit der Männerwelt verkehrten, allein ausfuhren, vielfach nicht mehr knicksten, und, was die Hauptsache war, die feste Überzeugung besaßen, daß die Wahl eines Zukünftigen nur ihre Sache sei, nicht diejenige der Eltern.
„Man giebt uns heutzutage nicht mehr den Männern in die Ehe, wie ehemals,“ dachten und sagten alle diese Mädchen und selbst auch alle älteren Leute. Aber wie verheiratet man sie denn dann heutzutage? Die Fürstin fand bei niemand Aufschluß darüber. Die französische Sitte, den Eltern das Geschick der Kinder in die Hände zu legen, war nicht üblich, sie wurde verurteilt. Die englische Sitte, der Tochter völlige Freiheit zu lassen, war ebenfalls nicht in Aufnahme und in der russischen Gesellschaft überhaupt undenkbar. Die russische Sitte der Freiwerbung wurde als unfein betrachtet, jedermann lachte jetzt über sie, die Fürstin selbst sogar; aber gleichwohl wußte niemand, auf welche Weise eine Tochter heiraten könne, und alle, mit denen die Fürstin über dieses Thema ins Gespräch kam, sagten ihr das Eine, man müsse eben in der gegenwärtigen Zeit Abstand nehmen vom Althergebrachten.
Daher müsse man die Jugend allein in die Ehe treten lassen, ohne der Eltern Geleit; vielleicht selbst die jungen Leute sich einrichten lassen, wie sie es verständen. Indessen so gut reden hatten nur diejenigen, welche keine Töchter besaßen, und die Fürstin wußte recht wohl, daß bei einer Annäherung ihre Tochter sich verlieben könne, in jemand verlieben, der sie gar nicht heiraten wollte, oder in jemand, der nicht zu ihrem Gatten taugte.