Hamburgische Dramaturgie. Gotthold Ephraim Lessing

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Hamburgische Dramaturgie - Gotthold Ephraim Lessing

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      Hamburgische Dramaturgie

      Ankuendigung

      Es wird sich leicht erraten lassen, dass die neue Verwaltung des hiesigen Theaters die Veranlassung des gegenwaertigen Blattes ist.

      Der Endzweck desselben soll den guten Absichten entsprechen, welche man den Maennern, die sich dieser Verwaltung unterziehen wollen, nicht anders als beimessen kann. Sie haben sich selbst hinlaenglich darueber erklaert, und ihre Aeusserungen sind, sowohl hier, als auswaerts, von dem feinern Teile des Publikums mit dem Beifalle aufgenommen worden, den jede freiwillige Befoerderung des allgemeinen Besten verdienet und zu unsern Zeiten sich versprechen darf.

      Freilich gibt es immer und ueberall Leute, die, weil sie sich selbst am besten kennen, bei jedem guten Unternehmen nichts als Nebenabsichten erblicken. Man koennte ihnen diese Beruhigung ihrer selbst gern goennen; aber, wenn die vermeinten Nebenabsichten sie wider die Sache selbst aufbringen; wenn ihr haemischer Neid, um jene zu vereiteln, auch diese scheitern zu lassen bemueht ist: so muessen sie wissen, dass sie die verachtungswuerdigsten Glieder der menschlichen Gesellschaft sind.

      Gluecklich der Ort, wo diese Elenden den Ton nicht angeben; wo die groessere Anzahl wohlgesinnter Buerger sie in den Schranken der Ehrerbietung haelt und nicht verstattet, dass das Bessere des Ganzen ein Raub ihrer Kabalen, und patriotische Absichten ein Vorwurf ihres spoettischen Aberwitzes werden!

      So gluecklich sei Hamburg in allem, woran seinem Woh1stande und seiner Freiheit gelegen: denn es verdienet, so gluecklich zu sein!

      Als Schlegel, zur Aufnahme des daenischen Theaters,—(ein deutscher Dichter des daenischen Theaters!)—Vorschlaege tat, von welchen es Deutschland noch lange zum Vorwurfe gereichen wird, dass ihm keine Gelegenheit gemacht worden, sie zur Aufnahme des unsrigen zu tun: war dieses der erste und vornehmste, "dass man den Schauspielern selbst die Sorge nicht ueberlassen muesse, fuer ihren Verlust und Gewinst zu arbeiten".1 Die Prinzipalschaft unter ihnen hat eine freie Kunst zu einem Handwerke herabgesetzt, welches der Meister mehrenteils desto nachlaessiger und eigennuetziger treiben laesst, je gewissere Kunden, je mehrere Abnehmer ihm Notdurft oder Luxus versprechen.

      Wenn hier also bis itzt auch weiter noch nichts geschehen waere, als dass eine Gesellschaft von Freunden der Buehne Hand an das Werk gelegt und, nach einem gemeinnuetzigen Plane arbeiten zu lassen, sich verbunden haette: so waere dennoch, bloss dadurch, schon viel gewonnen. Denn aus dieser ersten Veraenderung koennen, auch bei einer nur maessigen Beguenstigung des Publikums, leicht und geschwind alle andere Verbesserungen erwachsen, deren unser Theater bedarf.

      An Fleiss und Kosten wird sicherlich nichts gesparet werden: ob es an Geschmack und Einsicht fehlen duerfte, muss die Zeit lehren. Und hat es nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es hierin mangelhaft finden sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und hoere, und pruefe und richte. Seine Stimme soll nie geringschaetzig verhoeret, sein Urteil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden!

      Nur dass sich nicht jeder kleine Kritikaster fuer das Publikum halte, und derjenige, dessen Erwartungen getaeuscht werden, auch ein wenig mit sich selbst zu Rate gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht jeder Liebhaber ist Kenner; nicht jeder, der die Schoenheiten eines Stuecks, das richtige Spiel eines Akteurs empfindet, kann darum auch den Wert aller andern schaetzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich ueber Schoenheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnuegen und Entzuecken erwartet, als sie nach ihrer Art gewaehren kann.

      Der Stufen sind viel, die eine werdende Buehne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Buehne ist von dieser Hoehe, natuerlicherweise, noch weiter entfernt: und ich fuerchte sehr, dass die deutsche mehr dieses als jenes ist.

      Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herumirret.

      Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzufuehrenden Stuecken halten und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird. Die Wahl der Stuecke ist keine Kleinigkeit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn nicht immer Meisterstuecke aufgefuehret werden sollten, so sieht man wohl, woran die Schuld liegt. Indes ist es gut, wenn das Mittelmaessige fuer nichts mehr ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens daran urteilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinanderzusetzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmaessige Stuecke muessen auch schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzuegliche Rollen haben, in welchen der oder jener Akteur seine ganze Staerke zeigen kann. So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition, weil der Text dazu elend ist.

      Die groesste Feinheit eines dramatischen Richters zeiget sich darin, wenn er in jedem Falle des Vergnuegens und Missvergnuegens unfehlbar zu unterscheiden weiss, was und wieviel davon auf die Rechnung des Dichters, oder des Schauspielers, zu setzen sei. Den einen um etwas tadeln, was der andere versehen hat, heisst beide verderben. Jenem wird der Mut benommen, und dieser wird sicher gemacht.

      Besonders darf es der Schauspieler verlangen, dass man hierin die groesste Strenge und Unparteilichkeit beobachte. Die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat.

      Eine schoene Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge, die sich nicht wohl mit Worten ausdruecken lassen. Doch sind es auch weder die einzigen noch groessten Vollkommenheiten des Schauspielers. Schaetzbare Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr noetig, aber noch lange nicht seinen Beruf erfuellend! Er muss ueberall mit dem Dichter denken; er muss da, wo dem Dichter etwas Menschliches widerfahren ist, fuer ihn denken.

      Man hat allen Grund, haeufige Beispiele hiervon sich von unsern Schauspielern zu versprechen.—Doch ich will die Erwartung des Publikums nicht hoeher stimmen. Beide schaden sich selbst: der zu viel verspricht, und der zu viel erwartet.

      Heute geschieht die Eroeffnung der Buehne. Sie wird viel entscheiden; sie muss aber nicht alles entscheiden sollen. In den ersten Tagen werden sich die Urteile ziemlich durchkreuzen. Es wuerde Muehe kosten, ein ruhiges Gehoer zu erlangen.—Das erste Blatt dieser Schrift soll daher nicht eher als mit dem Anfange des kuenftigen Monats erscheinen.

      Hamburg, den 22. April 1767.

      Erster Band

      Erstes Stueck Den 1. Mai 1767

      Das Theater ist den 22. vorigen Monats mit dem Trauerspiele: "Olint und Sophronia" gluecklich eroeffnet worden. Ohne Zweifel wollte man gern mit einem deutschen Originale anfangen, welches hier noch den Reiz der Neuheit habe. Der innere Wert dieses Stueckes konnte auf eine solche Ehre keinen Anspruch machen. Die Wahl waere zu tadeln, wenn sich zeigen liesse, dass man eine viel bessere haette treffen koennen.

      "Olint und Sophronia" ist das Werk eines jungen Dichters, und sein unvollendet hinterlassenes Werk. Cronegk starb allerdings fuer unsere Buehne zu frueh; aber eigentlich gruendet sich sein Ruhm mehr auf das was er, nach dem Urteile seiner Freunde, fuer dieselbe noch haette leisten koennen, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, haette in seinem sechsundzwanzigsten Jahre sterben koennen, ohne die Kritik

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<p>1</p>

"Werke", dritter Teil, S. 252."