Hamburgische Dramaturgie. Gotthold Ephraim Lessing
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Die Rolle der Melanide ward von einer Aktrice gespielet, die nach einer neunjaehrigen Entfernung vom Theater aufs neue in allen den Vollkommenheiten wieder erschien, die Kenner und Nichtkenner, mit und ohne Einsicht, ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten. Madame Loewen verbindet mit dem silbernen Tone der sonoresten, lieblichsten Stimme, mit dem offensten, ruhigsten und gleichwohl ausdruckfaehigsten Gesichte von der Welt das feinste, schnel1ste Gefuehl, die sicherste, waermste Empfindung, die sich, zwar nicht immer so lebhaft, als es viele wuenschen, doch allezeit mit Anstand und Wuerde aeussert. In ihrer Deklamation akzentuiert sie richtig, aber nicht merklich. Der gaenzliche Mangel intensiver Akzente verursacht Monotonie; aber ohne ihr diese vorwerfen zu koennen, weiss sie dem sparsamern Gebrauche derselben durch eine andere Feinheit zu Hilfe zu kommen, von der, leider! sehr viele Akteurs ganz und gar nichts wissen. Ich will mich erklaeren. Man weiss, was in der Musik das Mouvement heisst; nicht der Takt, sondern der Grad der Langsamkeit oder Schnelligkeit, mit welchen der Takt gespielt wird. Dieses Mouvement ist durch das ganze Stueck einfoermig; in dem naemlichen Masse der Geschwindigkeit, in welchem die ersten Takte gespielet worden, muessen sie alle, bis zu den letzten, gespielet werden. Diese Einfoermigkeit ist in der Musik notwendig, weil ein Stueck nur einerlei ausdruecken kann, und ohne dieselbe gar keine Verbindung verschiedener Instrumente und Stimmen moeglich sein wuerde. Mit der Deklamation hingegen ist es ganz anders. Wenn wir einen Perioden von mehrern Gliedern als ein besonderes musikalisches Stueck annehmen und die Glieder als die Takte desselben betrachten, so muessen die Glieder, auch alsdenn, wenn sie vollkommen gleicher Laenge waeren und aus der naemlichen Anzahl von Silben des naemlichen Zeitmasses bestuenden, dennoch nie mit einerlei Geschwindigkeit gesprochen werden. Denn da sie, weder in Absicht auf die Deutlichkeit und den Nachdruck, noch in Ruecksicht auf den in dem ganzen Perioden herrschenden Affekt, von einerlei Wert und Belang sein koennen: so ist es der Natur gemaess, dass die Stimme die geringfuegigern schnell herausstoesst, fluechtig und nachlaessig darueber hinschlupft; auf den betraechtlichern aber verweilet, sie dehnet und schleift, und jedes Wort, und in jedem Worte jeden Buchstaben, uns zuzaehlet. Die Grade dieser Verschiedenheit sind unendlich; und ob sie sich schon durch keine kuenstliche Zeitteilchen bestimmen und gegeneinander abmessen lassen, so werden sie doch auch von dem ungelehrtesten Ohre unterschieden, sowie von der ungelehrtesten Zunge beobachtet, wenn die Rede aus einem durchdrungenen Herzen und nicht bloss aus einem fertigen Gedaechtnisse fliesset. Die Wirkung ist unglaublich, die dieses bestaendig abwechselnde Mouvement der Stimme hat; und werden vollends alle Abaenderungen des Tones, nicht bloss in Ansehung der Hoehe und Tiefe, der Staerke und Schwaeche, sondern auch des Rauhen und Sanften, des Schneidenden und Runden, sogar des Holprichten und Geschmeidigen an den rechten Stellen damit verbunden: so entstehet jene natuerliche Musik, gegen die sich unfehlbar unser Herz eroeffnet, weil es empfindet, dass sie aus dem Herzen entspringt, und die Kunst nur insofern daran Anteil hat, als auch die Kunst zur Natur werden kann. Und in dieser Musik, sage ich, ist die Aktrice, von welcher ich spreche, ganz vortrefflich, und ihr niemand zu vergleichen, als Herr Ekhof, der aber, indem er die intensiven Akzente auf einzelne Worte, worauf sie sich weniger befleissiget, noch hinzufueget, bloss dadurch seiner Deklamation eine hoehere Vollkommenheit zu geben imstande ist. Doch vielleicht hat sie auch diese in ihrer Gewalt; und ich urteile bloss so von ihr, weil ich sie noch in keinen Rollen gesehen, in welchen sich das Ruehrende zum Pathetischen erhebet. Ich erwarte sie in dem Trauerspiele und fahre indes in der Geschichte unsers Theaters fort.
Den vierten Abend (montags, den 27. v. M.) ward ein neues deutsches Original, betitelt "Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe", aufgefuehret. Es hat den Hrn. Heufeld in Wien zum Verfasser, der uns sagt, dass bereits zwei andere Stuecke von ihm den Beifall des dortigen Publikums erhalten haetten. Ich kenne sie nicht; aber nach dem gegenwaertigen zu urteilen, muessen sie nicht ganz schlecht sein.
Die Hauptzuege der Fabel und der groesste Teil der Situationen sind aus der "Neuen Heloise" des Rousseau entlehnet. Ich wuenschte, dass Herr Heufeld, ehe er zu Werke geschritten, die Beurteilung dieses Romans in den "Briefen, die neueste Literatur betreffend"3 gelesen und studiert haette. Er wuerde mit einer sicherern Einsicht in die Schoenheiten seines Originals gearbeitet haben und vielleicht in vielen Stuecken gluecklicher gewesen sein.
Der Wert der "Neuen Heloise" ist, von der Seite der Erfindung, sehr gering, und das Beste darin ganz und gar keiner dramatischen Bearbeitung faehig. Die Situationen sind alltaeglich oder unnatuerlich, und die wenig guten so weit voneinander entfernt, dass sie sich, ohne Gewaltsamkeit, in den engen Raum eines Schauspiels von drei Aufzuegen nicht zwingen lassen. Die Geschichte konnte sich auf der Buehne unmoeglich so schliessen, wie sie sich in dem Romane nicht sowohl schliesst, als verlieret. Der Liebhaber der Julie musste hier gluecklich werden, und Herr Heufeld laesst ihn gluecklich werden. Er bekoemmt seine Schuelerin. Aber hat Herr Heufeld auch ueberlegt, dass seine Julie nun gar nicht mehr die Julie des Rousseau ist? Doch Julie des Rousseau oder nicht: wem liegt daran? Wenn sie nur sonst eine Person ist, die interessierst. Aber eben das ist sie nicht; sie ist nichts als eine kleine verliebte Naerrin, die manchmal artig genug schwatzet, wenn sich Herr Heufeld auf eine schoene Stelle im Rousseau besinnet. "Julie", sagt der Kunstrichter, dessen Urteils ich erwaehnet habe, "spielt in der Geschichte eine zweifache Rolle. Sie ist anfangs ein schwaches und sogar etwas verfuehrerisches Maedchen und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als ein Muster der Tugend, alle, die man jemals erdichtet hat, weit uebertrifft." Dieses letztere wird sie durch ihren Gehorsam, durch die Aufopferung ihrer Liebe, durch die Gewalt, die sie ueber ihr Herz gewinnet. Wenn nun aber von allen diesen in dem Stuecke nichts zu hoeren und zu sehen ist: was bleibt von ihr uebrig, als, wie gesagt, das schwache verfuehrerische Maedchen, das Tugend und Weisheit auf der Zunge, und Torheit im Herzen hat?
Den St. Preux des Rousseau hat Herr Heufeld in einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund schmecket bei uns ziemlich nach dem Domestiken. Ich wuenschte, dass unsere dramatischen Dichter auch in solchen Kleinigkeiten ein wenig gesuchterer, und auf den Ton der grossen Welt aufmerksamer sein wollten.—St. Preux spielt schon bei dem Rousseau eine sehr abgeschmackte Figur. "Sie nennen ihn alle", sagt der angefuehrte Kunstrichter, "den Philosophen. Den Philosophen! Ich moechte wissen, was der junge Mensch in der ganzen Geschichte spricht oder tut, dadurch er diesen Namen verdienst? In meinen Augen ist er der albernste Mensch von der Welt, der in all- gemeinen Ausrufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt und nicht den geringsten Funken davon besitzet. In seiner Liebe ist er abenteuerlich, schwuelstig, ausgelassen, und in seinem uebrigen Tun und Lassen findet sich nicht die geringste Spur von Ueberlegung. Er setzet das stolzeste Zutrauen in seine Vernunft und ist dennoch nicht entschlossen genug, den kleinsten Schritt zu tun, ohne von seiner Schuelerin oder von seinem Freunde an der Hand gefuehret zu werden."—Aber wie tief ist der deutsche Siegmund noch unter diesem St. Preux!
Neuntes Stueck Den 29. Mai 1767
In dem Romane hat St. Preux doch noch dann und wann Gelegenheit, seinen aufgeklaerten Verstand zu zeigen und die taetige Rolle des rechtschaffenen Mannes zu spielen. Aber Siegmund in der Komoedie ist weiter nichts, als ein kleiner eingebildeter Pedant, der aus seiner Schwachheit
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Teil X, S. 255 u. f.