Hamburgische Dramaturgie. Gotthold Ephraim Lessing

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Hamburgische Dramaturgie - Gotthold Ephraim Lessing

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in den Augen einer erleuchteten Nation, nicht anders als kindisch sein koenne." "Wie?" versetzt er dagegen; "das ganze Altertum haette diese Wunder geglaubt, und es sollte nicht vergoennt sein, sich nach dem Altertume zu richten? Wie? unsere Religion haette dergleichen ausserordentliche Fuegungen der Vorsicht geheiliget, und es sollte laecherlich sein, sie zu erneuern?"

      Diese Ausrufungen, duenkt mich, sind rhetorischer, als gruendlich. Vor allen Dingen wuenschte ich, die Religion hier aus dem Spiele zu lassen. In Dingen des Geschmacks und der Kritik sind Gruende, aus ihr genommen, recht gut, seinen Gegner zum Stillschweigen zu bringen, aber nicht so recht tauglich, ihn zu ueberzeugen. Die Religion, als Religion, muss hier nichts entscheiden sollen; nur als eine Art von Ueberlieferung des Altertums, gilt ihr Zeugnis nicht mehr und nicht weniger, als andere Zeugnisse des Altertums gelten. Und sonach haetten wir es auch hier nur mit dem Altertume zu tun.

      Sehr wohl; das ganze Altertum hat Gespenster geglaubt. Die dramatischen Dichter des Altertums hatten also recht, diesen Glauben zu nutzen; wenn wir bei einem von ihnen wiederkommende Tote aufgefuehret finden, so waere es unbillig, ihm nach unsern bessern Einsichten den Prozess zu machen. Aber hat darum der neue, diese unsere bessere Einsichten teilende dramatische Dichter die naemliche Befugnis? Gewiss nicht.—Aber wenn er seine Geschichte in jene leichtglaeubigere Zeiten zuruecklegt? Auch alsdenn nicht. Denn der dramatische Dichter ist kein Geschichtschreiber; er erzaehlt nicht, was man ehedem geglaubt, dass es geschehen, sondern er laesst es vor unsern Augen nochmals geschehen; und laesst es nochmals geschehen, nicht der blossen historischen Wahrheit wegen, sondern in einer ganz andern und hoehern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck, sondern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will uns taeuschen, und durch die Taeuschung ruehren. Wenn es also wahr ist, dass wir itzt keine Gespenster mehr glauben; wenn dieses Nichtglauben die Taeuschung notwendig verhindern muesste; wenn ohne Taeuschung wir unmoeglich sympathisieren koennen: so handelt itzt der dramatische Dichter wider sich selbst, wenn er uns demohngeachtet solche unglaubliche Maerchen ausstaffieret; alle Kunst, die er dabei anwendet, ist verloren.

      Folglich? Folglich ist es durchaus nicht erlaubt, Gespenster und Erscheinungen auf die Buehne zu bringen? Folglich ist diese Quelle des Schrecklichen und Pathetischen fuer uns vertrocknet? Nein; dieser Verlust waere fuer die Poesie zu gross; und hat sie nicht Beispiele fuer sich, wo das Genie aller unserer Philosophie trotzet und Dinge, die der kalten Vernunft sehr spoettisch vorkommen, unserer Einbildung sehr fuerchterlich zu machen weiss? Die Folge muss daher anders fallen; und die Voraussetzung wird nur falsch sein. Wir glauben keine Gespenster mehr? Wer sagt das? Oder vielmehr, was heisst das? Heisst es so viel: wir sind endlich in unsern Einsichten so weit gekommen, dass wir die Unmoeglichkeit davon erweisen koennen; gewisse unumstoessliche Wahrheiten, die mit dem Glauben an Gespenster im Widerspruche stehen, sind so allgemein bekannt worden, sind auch dem gemeinsten Manne immer und bestaendig so gegenwaertig, dass ihm alles, was damit streitet, notwendig laecherlich und abgeschmackt vorkommen muss? Das kann es nicht heissen. Wir glauben itzt keine Gespenster, kann also nur so viel heissen: in dieser Sache, ueber die sich fast ebensoviel dafuer als darwider sagen laesst, die nicht entschieden ist und nicht entschieden werden kann, hat die gegenwaertig herrschende Art zu denken den Gruenden darwider das Uebergewicht gegeben; einige wenige haben diese Art zu denken, und viele wollen sie zu haben scheinen; diese machen das Geschrei und geben den Ton; der groesste Haufe schweigt und verhaelt sich gleichgueltig und denkt bald so, bald anders, hoert beim hellen Tage mit Vergnuegen ueber die Gespenster spotten und bei dunkler Nacht mit Grausen davon erzaehlen.

      Aber in diesem Verstande keine Gespenster glauben, kann und darf den dramatischen Dichter im geringsten nicht abhalten, Gebrauch davon zu machen. Der Same, sie zu glauben, liegt in uns allen, und in denen am haeufigsten, fuer die er vornehmlich dichtet. Es koemmt nur auf seine Kunst an, diesen Samen zum Keimen zu bringen; nur auf gewisse Handgriffe, den Gruenden fuer ihre Wirklichkeit in der Geschwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er diese in seiner Gewalt, so moegen wir in gemeinem Leben glauben, was wir wollen; im Theater muessen wir glauben, was Er will.

      So ein Dichter ist Shakespeare, und Shakespeare fast einzig und allein. Vor seinem Gespenste im "Hamlet" richten sich die Haare zu Berge, sie moegen ein glaeubiges oder unglaeubiges Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire tat gar nicht wohl, sich auf dieses Gespenst zu berufen; es macht ihn und seinen Geist des Ninus—laecherlich.

      Shakespeares Gespenst koemmt wirklich aus jener Welt; so duenkt uns. Denn es koemmt zu der feierlichen Stunde, in der schaudernden Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller der duestern, geheimnisvollen Nebenbegriffe, wenn und mit welchen wir, von der Amme an, Gespenster zu erwarten und zu denken gewohnt sind. Aber Voltairens Geist ist auch nicht einmal zum Popanze gut, Kinder damit zu erschrecken; es ist der blosse verkleidete Komoediant, der nichts hat, nichts sagt, nichts tut, was es wahrscheinlich machen koennte, er waere das, wofuer er sich ausgibt; alle Umstaende vielmehr, unter welchen er erscheinet, stoeren den Betrug und verraten das Geschoepf eines kalten Dichters, der uns gern taeuschen und schrecken moechte, ohne dass er weiss, wie er es anfangen soll. Man ueberlege auch nur dieses einzige: am hellen Tage, mitten in der Versammlung der Staende des Reichs, von einem Donnerschlage angekuendiget, tritt das Voltairische Gespenst aus seiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehoert, dass Gespenster so dreist sind? Welche alte Frau haette ihm nicht sagen koennen, dass die Gespenster das Sonnenlicht scheuen und grosse Gesellschaften gar nicht gern besuchten? Doch Voltaire wusste zuverlaessig das auch; aber er war zu furchtsam, zu ekel, diese gemeinen Umstaende zu nutzen; er wollte uns einen Geist zeigen, aber es sollte ein Geist von einer edlern Art sein; und durch diese edlere Art verdarb er alles. Das Gespenst, das sich Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten unter den Gespenstern sind, duenket mich kein rechtes Gespenst zu sein; und alles, was die Illusion hier nicht befoerdert, stoeret die Illusion.

      Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen haette, so wuerde er auch von einer andern Seite die Unschicklichkeit empfunden haben, ein Gespenst vor den Augen einer grossen Menge erscheinen zu lassen. Alle muessen auf einmal, bei Erblickung desselben, Furcht und Entsetzen aeussern; alle muessen es auf verschiedene Art aeussern, wenn der Anblick nicht die frostige Symmetrie eines Balletts haben soll. Nun richte man einmal eine Herde dumme Statisten dazu ab; und wenn man sie auf das gluecklichste abgerichtet hat, so bedenke man, wie sehr dieser vielfache Ausdruck des naemlichen Affekts die Aufmerksamkeit teilen, und von den Hauptpersonen abziehen muss. Wenn diese den rechten Eindruck auf uns machen sollen, so muessen wir sie nicht allein sehen koennen, sondern es ist auch gut, wenn wir sonst nichts sehen, als sie. Beim Shakespeare ist es der einzige Hamlet, mit dem sich das Gespenst einlaesst; in der Szene, wo die Mutter dabei ist, wird es von der Mutter weder gesehen noch gehoert. Alle unsere Beobachtung geht also auf ihn, und je mehr Merkmale eines von Schauder und Schrecken zerruetteten Gemuets wir an ihm entdecken, desto bereitwilliger sind wir, die Erscheinung, welche diese Zerruettung in ihm verursacht, fuer eben das zu halten, wofuer er sie haelt. Das Gespenst wirket auf uns, mehr durch ihn, als durch sich selbst. Der Eindruck, den es auf ihn macht, gehet in uns ueber, und die Wirkung ist zu augenscheinlich und zu stark, als dass wir an der ausserordentlichen Ursache zweifeln sollten. Wie wenig hat Voltaire auch diesen Kunstgriff verstanden! Es erschrecken ueber seinen Geist viele; aber nicht viel. Semiramis ruft einmal: "Himmel! ich sterbe!" und die andern machen nicht mehr Umstaende mit ihm, als man ohngefaehr mit einem weit entfernt geglaubten Freunde machen wuerde, der auf einmal ins Zimmer tritt.

      Zwoelftes Stueck Den 9. Junius 1767

      Ich bemerke noch einen Unterschied, der sich zwischen den Gespenstern des englischen und franzoesischen Dichters findet. Voltaires Gespenst ist nichts als eine poetische Maschine, die nur des Knotens wegen da ist; es interessiert uns fuer sich selbst nicht im geringsten. Shakespeares Gespenst hingegen ist eine wirklich handelnde Person, an dessen Schicksale wir Anteil nehmen; es erweckt Schauder, aber auch Mitleid.

      Dieser Unterschied entsprang, ohne Zweifel, aus der verschiedenen Denkungsart beider Dichter von den Gespenstern ueberhaupt. Voltaire betrachtet die Erscheinung eines Verstorbenen als ein Wunder; Shakespeare als eine ganz natuerliche Begebenheit. Wer von beiden philosophischer denkt, duerfte keine Frage sein; aber Shakespeare dachte poetischer. Der Geist des Ninus kam bei Voltairen als ein Wesen, das noch jenseit dem Grabe

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