Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах. Коллектив авторов
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Aristoteles bringt in der „Metaphysik“ die Begriffe der energeia (ἐνέργεια) und entelecheia (ἐντελέχεια) miteinander in Verbindung, da er beide zum Bereich der Wirklichkeit rechnet und erklärt, die energeia sei eher der Vorgang, die Aktualisierung im Seienden und somit das Streben nach der vollendeten Wirklichkeit (entelecheia) (vgl. Aristoteles, Metaphysik IX, 3, 1047a 30–35 [Аристотель 1976: 238] bzw. Metaphysik, IX, 8, 1050a 20 [Аристотель 1976: 246]). „Die Entelecheia steuert die Verwirklichung eines im Seienden angelegten Vermögens. Als Ausgang und Ziel der Bewegung bewirkt sie die Realisation der angestrebten Form. In diesem Sinne kann das Zusammentreffen von Vorgang und Zustand der Verwirklichung als Entelechie bezeichnet werden“ [Hilgers 2002: 18]; somit lässt sich die Entelechie auch als wichtige Parallele zu Goethes Begriff der Metamorphose sehen, denn gerade die Metamorphosentheorie (Morphologie, Gestaltenlehre) war ein Versuch, Prä- und Postformationstheorie zu versöhnen [Canisius 1998: 109] und auf die Frage zu antworten: „Wie kann etwas geformt sein eh es ist“? „Die Morphologie ruht auf der Überzeugung, daß alles was sei sich auch andeuten und zeigen müsse“ führt Goethe in der kleinen fragmentarischen Schrift „Morphologie“ [1887–1919, II: 6/54] aus. Das Wesen, das Innere hat also einen Drang, sich als eine Gestalt auszudrücken. Der Begriff „Gestalt“ steht bei Goethe in erster Linie für etwas, das „nur für den Augenblick festgehalten werden kann“: „Gestalt ist ein bewegliches, ein werdendes, ein vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre“, so Goethe [1887–1919, II: 6/54]. Die Gestaltung meint jedoch die Entwicklung, die Metamorphose einer inneren Gestalt, die von der äußeren zu unterscheiden ist. Die „innere Gestalt“, schreibt Claus Canisius, „zeigt sich somit als ein Prozess der Verwandlung“ [2002: 101]. Deswegen könne sie auch als Entelechie verstanden werden, indem die äußere Gestalt, die man nur für den Augenblick festhalten kann, den energeia-Aspekt ausdrücke. Meist setzt Goethe Entelechie mit dem Begriff der Monade gleich und verwendet den Ausdruck fast immer9 auf das Individuum bezogen10. So sei auch der Dämon eine „geprägte Form“ bzw. Gestalt, aber eben eine, „die lebend sich entwickelt“, wie Goethe in „Urworte. Orphisch“ [Goethe 1988, I: 359] formuliert. Goethe fasst die Monade nicht als eine in sich geschlossene, sondern als eine lebendige, „bipolare Einheit auf, die aktives und passives Vermögen, Individuum und Welt, Subjekt und Objekt in sich vereint“ [Hilgers 2002: 149]. Die lebendige Entwicklung besteht im Ausdehnen ins Objekt und dem Zusammenziehen ins Subjekt, die beide eine Einheit bilden und trotzdem nicht identisch sind.11 Ein Schlaglicht auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt in der Monade wirft die Stelle eines Briefes von Goethe an Schlosser vom 19. Februar 1815, wo Goethe Schlossers Annahme widerspricht, das Subjekt sei wie der Mollton in der Musik, „der Natur fernste“, da es wie jener „das Gemüth am entschiedensten gegen die Natur kehrt“ (Schlosser an Goethe, 11. Februar 1815 ([Dreyer 1985: 154]):
a ) In der Natur ist alles was im Subjekt ist.
y ) und etwas drüber.
b ) Im Subjekt ist alles was in der Natur ist.
z ) und etwas drüber.
b kann a erkennen, aber y nur durch z geahndet werden. Hieraus entsteht das Gleichgewicht der Welt und unser Lebenskreis, in den wir gewiesen sind.12
Y und z sind diskursiv nicht erfassbar, doch gerade ihr Verhältnis bestimmt den Zusammenhang zwischen dem individuellen Gesetz und der Weltordnung innerhalb einer Monade. Das Inkommensurable in der Natur sowie im Menschen lässt sich, so Goethe in seiner Schrift „Versuch einer Witterungslehre“, nur „im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen“ [Goethe 1988, XII: 305] betrachten – also als etwas Werdendes, Vergehendes, sich Verwandelndes. Die Konzepte von Dämon und Dämonischem scheinen y und z insoweit zu ähneln, als Goethe mit ihnen ebenfalls versucht, das Unbegreifliche zu erfassen.
Das Bild der prästabilierten Harmonie, wonach das Innere sich durch die Wirkung der „Weltregierung“ erhöht und anregt, zerbricht an den konkreten Erfahrungen Goethes: den Erfahrungen der Gräuel der Revolution, der Besatzung, des Todes enger Vertrauter, von Ungerechtigkeit, die sich durch Gesetz und Ordnung nicht mehr ohne weiteres rechtfertigen lassen. Goethe war weder Utopist noch Optimist. Das Bild hat darum auch eine andere Seite: Der kleine Mensch ist eingeklemmt zwischen dem Gesetz seiner unbekannten Individualität und dem inkommensurablen Gesetz der Welt, das sich auch als ungeheure Katastrophe offenbaren kann, sodass das zweite Gesetz sich nur durch das erste, unbekannte ahnen lässt. Bleibt in dieser Welt damit überhaupt noch Platz für freies Handeln?
Wenn Goethe sich auch vom Dämonischen leiten lässt, so bedeutet das keineswegs Selbstvergessenheit oder die Selbsthingabe an den Willen höherer Kräfte. Vielmehr behauptet er, der Mensch könne und müsse auch angesichts des Dämonischen frei handeln – natürlich in einem bestimmten Rahmen: er sei also verantwortlich für die Verwirklichung seiner inneren Regungen.13 Am 18. März 1831 äußerte Goethe gegenüber Eckermann: „Nur muß der Mensch […] auch wiederum gegen das Dämonische recht zu behalten suchen, und ich muß in gegenwärtigem Fall dahin trachten, durch allen Fleiß und Mühe meine Arbeit so gut zu machen, als in meinen Kräften steht und die Umstände es mir anbieten“ [Eckermann 1987, 450–451]. Etwas früher (am 11. März 1828) spricht Goethe von zwei Arten der Produktivität: in der ersten vereinigten sich Dämon und Dämonisches, die zweite aber bleibe dem Menschen überlassen:
Jede Produktivität höchster Art […] steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. […] Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut, wie es beliebt, und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten […].
Sodann aber gibt es jene Produktivität
9
Die wichtige Ausnahme ist die Tonmonade.
10
So im Gespräch mit Eckermann vom 3. März 1830: „Wir reden fort über viele Dinge, und so kommen wir auch wieder auf die Entelechie. „Die Hartnäckigkeit des Individuums, und daß der Mensch abschüttelt, was ihm nicht gemäß ist“, sagte Goethe, „ist mir ein Beweis, daß so etwas existiere“. […] „Leibniz“, fuhr er fort, „hat ähnliche Gedanken über solche selbstständige Wesen gehabt, und zwar, was wir mit dem Ausdruck Entelechie bezeichnen, nannte er Monaden“ [Eckermann 1987: 374].
11
Als repräsentativ erscheinen hier die Überlegungen Goethes innerhalb seiner „Tonlehre“ sowie die, die er im Briefwechsel mit Schlosser darlegte. Vgl.: „…der Gesang das Subjekt der Musik, die Musik das Objekt des Gesangs, und so wiederum beide eine Monas“ [Dreyer 1985: 25].
12
Goethes Brief an Schlosser vom 19. Februar 1815 [Dreyer 1985: 155]. Außerdem: „Alles, was im Subjekt ist, ist im Objekt, und noch etwas mehr. Alles, was im Objekt ist, ist im Subjekt, und noch etwas mehr. Wir sind auf doppelte Weise verloren oder geborgen: Gestehn wir dem Objekt sein Mehr zu, pochen wir auf unser Subjekt.“ („Maximen und Reflexionen“ [Goethe 1988, XII: 436])
13
„Um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren, muß man auch eine sein“ (Gespräch mit Eckermann vom 1. September 1829 [Eckermann 1987: 347]).