Namenlos. Уилки Коллинз
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Magdalene faßte ihre Mutter mit sprachlosem Erstaunen beim Arme; Miss Garth ließ ihre Arbeit in den Schoß sinken, sogar die gesetzte Nora sah auf ihre Füße, und wiederholte betroffen die Worte: … Gehen nach London.
– Ohne uns! setzte Magdalene hinzu.
– Euer Vater und ich, wir gehen allein, sagte Mrs. Vanstone. Vielleicht auf drei Wochen, aber nicht länger. Wir gehen – sie hielt inne – wir gehen in dringender Familienangelegenheit (Laß mich los, Magdalene.) Es ist eine unerwartet eingetretene Nothwendigkeit, – ich habe heute viel zu schaffen, – Mancherlei bis morgen in Ordnung zu bringen. Nun, nun, meine Liebe, laß mich gehen.
Sie legte ihren Arm weg, küßte die jüngste Tochter auf die Stirn und verließ plötzlich das Zimmer wieder. Selbst Magdalene sah, daß ihre Mutter sich heute nicht darauf einließ, weitere Fragen anzuhören oder zu beantworten.
Der Morgen verging langsam, und von Mr. Vanstone war nichts zu sehen. Mit der rücksichtslosen Neugier ihres Alters und Charakters entschloß sich Magdalene, trotz des Verbots von Miss Garth und der Vorstellungen ihrer Schwester nach dem Bibliothekszimmer zu gehen und dort ihren Vater aufzusuchen. Als sie die Thür öffnen wollte, war sie von innen verschlossen. Sie sagte: Ich bin’s nur, Papa, und wartete aus eine Antwort.
– Ich bin beschäftigt, meine Liebe, war die Antwort. Störe mich nicht.
Anderseits war auch Mrs. Vanstone nicht zugänglich. Sie blieb in ihrem eigenen Zimmer mit den Dienstmädchen um sich, vertieft in endlose Vorbereitungen zur bevorstehenden Abreise. Die Mädchen, bisher in dieser Familie an plötzliche Entschließungen und unerwartete Befehle nicht gewöhnt, waren linkisch und verwirrt, wie sie diese Weisungen erhielten. Sie liefen unnöthiger Weise aus einer Stube in die andere und verloren Zeit und Geduld, indem sie einander auf der Treppe stießen. Wenn ein Fremder in das Haus gekommen wäre an diesem Tage, so würde er wohl gedacht haben, daß ein unerwartetes Unglück vorgefallen wäre, anstatt einer unerwarteten Reise nach London. Nichts blieb in der gewohnten Ordnung. Magdalene, welche gewohnt war, den Vormittag am Piano zuzubringen, wanderte unruhig auf der Treppe und in den Gängen hin und her und aus einem Zimmer ins andere, wenn es dort »gut Wetter« zu geben schien. Nora, deren Leselust in der Familie sprichwörtlich geworden war, nahm ein Buch nach dem andern von dem Tische und aus dem Schranke und legte alle wieder weg, weil sie ihre Aufmerksamkeit nicht fesseln konnten. Sogar Miss Garth spürte an sich den Alles durchdringenden Einfluß der Störung des Hauswesens und saß allein beim Kamin des Morgenzimmers, ihr Haupt hin- und herschüttelnd, die Arbeit bei Seite gelegt.
– Familienangelegenheiten? dachte Miss Garth, indem sie über Mrs. Vanstones allgemein gehaltene Mittheilung nachsann. Ich habe nun meine zwölf Jahre auf Combe-Raven gelebt, und dies sind die ersten Familienangelegenheiten, die sich zwischen Aeltern und Kinder gestellt haben, so lange ich denken kann. Was soll das bedeuten? Eine Veränderung? Ich merke, ich werde alt. Ich mag Veränderungen nicht leiden.
Zweites Capitel
Zehn Uhr am nächsten Morgen standen Nora und Magdalene allein in der Flur von Combe-Raven und sahen den Wagen abfahren, welcher Vater und Mutter nach der Londoner Eisenbahn bringen sollte.
Bis zum letzten Augenblick hatten beide Schwestern einige weitere Aufklärung über jene »Familienangelegenheit« zu erhalten gehofft, auf welche Mrs. Vanstone Tagsvorher so kurz angespielt hatte. Keine solche Erklärung war gegeben worden. Sogar die Erregtheit beim Abschiednehmen unter Umständen, welche in den häuslichen Erinnerungen der Aeltern und der Kinder ganz neu waren, hatte das entschlossene Schweigen von Mr. und Mrs. Vanstone nicht zu erschüttern vermocht. Sie waren unter den wärmsten Zärtlichkeitsbeweisen abgereist, unter immer und immer wiederholten herzlichen Abschiedsumarmungen, aber ohne von Anfang bis zuletzt ein Wort fallen zu lassen über den Grund ihrer jähen Reise.
So wie das Geräusch des wegfahrenden Wagens plötzlich bei einer Wendung der Straße verstummt war, sahen sich die Schwestern einander ins Angesicht. Jede fühlte und Jede verrieth auf ihre Weise die herbe Empfindung, sich zum ersten Male von dem Vertrauen ihrer Aeltern ausgeschlossen sehen zu müssen. Noras gewöhnliche Verschlossenheit verhärtete sich zu bitterem Schweigen, sie setzte sich auf einen der Stuhle in der Halle und schaute mit düsterem Blick durch die offene Hausthür. Magdalene wie gewöhnlich, wenn ihr Wesen aufgeregt war, machte ihrem Mißvergnügen in den offensten Worten Luft.
Mir ist es einerlei, wer es hört, aber ich meine, wir sind Beide schmählich mißhandelt!
Mit diesen Worten folgte die junge Dame dem Beispiel ihrer Schwester, indem sie sich ebenfalls auf einen Stuhl in der Flur niederließ und durch die offene Hausthür ins Freie schaute.
Gerade in demselben Augenblick trat Miss Garth aus dem Morgenzimmer in die Flur. Ihre rasche Beobachtung zeigte ihr die Notwendigkeit, sich hier nützlich ins Mittel zu legen, und ihr richtiges Tactgefühl ließ sie sogleich den Weg dazu finden.
– Sehen Sie mich an, Sie Beide, wenn Sie wollen, und hören Sie mich an, sagte Miss Garth. Wenn wir Alle Drei hübsch gemüthlich und froh mit einander leben wollen, jetzt wo wir allein sind, so müssen wir ein Jedes zu seiner gewohnten Beschäftigung zurückkehren und die alte Lebensweise wieder aufnehmen. Das ist gerade heraus gesagt, der Stand der Dinge. Nehmen Sie die Situation an, wie sie ist, um den französischen Ausdruck zu gebrauchen. Ich bin hier, um Ihnen mit meinem Beispiele vorauszugehen. Ich habe soeben ein vortreffliches Mittagsessen zur gewöhnlichen Zeit bestellt. Ich gehe nun zu meinem Arzneikasten, um der Küchenmagd etwas einzugeben, ein ungesundes Mädchen, dessen Kopfschmerz im Magen sitzt. Mittlerweile werden Sie, Nora, meine Theure, Ihre Arbeit und Ihre Bücher wie gewöhnlich in der Bibliothek finden. Und Sie, Magdalene, denke ich, werden nun aufhören, Knoten in Ihr Taschentuch zu knüpfen und lieber Ihre Finger auf der Claviatur des Piano üben. Wir werden um Eins etwas essen und dann die Hunde ausführen. Seien Sie Beide so lebendig und munter, wie Sie mich sehen. Wohl an, stehen Sie gleich mit auf. Wenn ich diese verdüsterten Gesichter noch länger mit ansehen soll, so werde ich, so wahr ich Garth heiße, Ihre Mutter schriftlich um meine Entlassung bitten und mit dem gemischten Zuge um 12 Uhr 40 Minuten zu meiner Familie zurückkehren.
Indem Miss Garth ihre Ansprache mit diesen Worten schloß, führte sie Nora an die Bibliothekthür, schob Magdalene in das Morgenzimmer und ging dann ihren eigenen Wege nach der Gegend des Arzneikastens.
In dieser halb scherzenden, halb ernsthaften Weise war sie gewohnt, eine Art freundschaftlicher Autorität über Mr. Vanstones Töchter auszuüben, nachdem ihre eigentlichen Dienste als Gouvernante nothwendig ihre Endschaft erreicht hatten. Nora hatte, was wohl kaum erst gesagt zu werden braucht, lange schon aufgehört, ihre Schülerin zu sein, und auch Magdalene hatte jetzt ihre Erziehung vollendet. Allein Miss Garth hatte zu lange und zu vertraut unter Mrs. Vanstones Dach gelebt, als daß man sie aus bloßen formellen Erwägungen gehen lassen mochte, und der erste Wink in Bezug aus Ehren Weggang, den sie für ihre Pflicht hielt fallen zu lassen, wurde mit einer so warm empfundenen Ablehnung zurückgewiesen, daß sie ihn nie wiederholte, es sei denn zum Scherz. Die ganze Führung des Hauswesens war von der Zeit an in ihre Hände gelegt worden, und zu diesen Pflichten fügte sie aus freiem Antriebe die freundschaftliche Beihilfe, die sie Nora bei der Lectüre geben konnte, und die Aufsicht über Magdalenens musicalische Uebungen. Das war die Stellung, in welcher Miss Garth Mr. Vanstones Familie angehörte.
Gegen den Nachmittag hin hellte sich das Wetter auf. Halb zwei Uhr schien die Sonne recht schön, und die Damen verließen das Haus, um, begleitet von den Hunden, ihren Spaziergang zu machen.
Sie gingen über den Fluß und stiegen durch den kleinen Felsenpaß nach den Hügeln im Hintergrunde hinan; dann wendeten sie sich wieder links und kehrten auf einer Seitenstraße