Ange Pitou Denkwürdigkeiten eines Arztes 3. Александр Дюма
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Mademoiselle Rose Angélique Pitou war in dem Augenblick, als sie ihre Thüre öffnete, um ihren Neffen und den Doktor einzulassen, in sehr freudiger Laune. Während man die Totenmesse über dem Leichnam ihrer Schwägerin in der Kirche von Haramont las, hatten Hochzeiten und Taufen in der Kirche von Villers-Cotterets stattgefunden, so daß die Einnahme für die Stühle an einem Tage auf sechs Livres angewachsen war. Mademoiselle Angélique hatte ihre Sous in einen großen Thaler verwandelt, der wiederum mit den drei anderen zu verschiedenen Zeiten in Reserve gelegten Thalern einen Louisd'or gab. Dieser Louisd'or war soeben den übrigen beigesellt worden, und der Tag, an dem eine solche Vereinigung stattfand, bildete natürlich einen Festtag für Mademoiselle Angélique.
Gerade in dem Augenblick, als die Tante eine letzte Runde um ihren Lehnstuhl gemacht hatte, um sich zu versichern, daß nichts von außen den im Innern verborgenen Schatz verrate, traten der Doktor und Pitou ein.
Die Scene wäre rührend gewesen; doch in den Augen eines so richtigen Beobachters, wie der Doktor Gilbert, war sie nur grotesk. Als sie ihren Neffen erblickte, sprach die alte Frömmlerin ein paar Worte von ihrer armen teuren Schwester, die sie so sehr geliebt, und gab sich die Miene, als wischte sie eine Thräne ab. Der Doktor, der erst einen Blick in die tiefste Tiefe des Herzens der alten Mademoiselle werfen wollte, bevor er in Beziehung auf sie einen Entschluß fassen würde, hielt zum Schein Mademoiselle Angélique eine Rede über die Pflichten der Tanten gegen die Neffen. Doch in dem Maße, in welchem die Rede sich entwickelte und die Worte von den Lippen des Doktors strömten, trank das Auge der alten Mademoiselle die Thräne, die es befeuchtet hatte, alle ihre Züge nahmen die Trockenheit des Pergaments wieder an, mit dem sie bedeckt zu sein schienen. Sie hob die linke Hand bis zur Höhe ihres spitzigen Kinns empor und fing an, mit der rechten an ihren dürren Fingern die annähernde Zahl der Sous zu berechnen, die ihr das Vermieten der Stühle jährlich eintrug, so daß sie, da es der Zufall gefügt, daß die Rechnung zugleich mit der Rede geschlossen war, auf der Stelle antworten konnte: wie sehr sie auch ihre arme Schwester geliebt, und in welch hohem Grade sie auch Teilnahme für ihren Neffen hege, so gestatten ihr doch ihre geringen Einnahmen, trotz ihres doppelten Titels als Tante und Patin, keinen Zuwachs an Ausgaben.
Der Doktor war übrigens auf diese Weigerung gefaßt gewesen, sie überraschte ihn daher nicht. Er gehörte zu den großen Parteigängern der neuen Ideen, und da der erste Band vom Werke Lavaters erschienen war, so hatte er die physiognomische Lehre des Philosophen von Zürich schon auf das hagere gelbe Gesicht von Mademoiselle Angélique angewendet.
Aus dieser Untersuchung ergab sich für ihn folgendes: die kleinen, glühenden Augen der alten Mademoiselle, ihre lange Nase und ihre dünnen Lippen bieten die Vereinigung der Habgier, der Selbstsucht und der Heuchelei in einer Person.
Die Antwort erregte bei ihm, wie gesagt, nicht das geringste Erstaunen. Als Beobachter wollte er jedoch sehen, wie weit die Frömmlerin die Entwickelung dieser drei gemeinen Laster treiben würde.
»Aber Mademoiselle,« sagte er, »Ange Pitou ist ein armes Waisenkind, der Sohn Ihres Bruders, und Sie können, im Namen der Menschlichkeit, den Sohn Ihres Bruders nicht der öffentlichen Wohlthätigkeit überlassen.«
»Oh! hören Sie doch, Herr Gilbert,« erwiderte die alte Mademoiselle, »das ist eine Mehrausgabe von wenigstens sechs Sous täglich, und zwar noch gering gerechnet; denn dieser Junge muß mindestens ein Pfund Brot den Tag essen.«
Pitou schnitt ein Gesicht; er aß gewöhnlich anderthalb Pfund nur bei seinem Frühstück.
»Abgesehen von der Seife für seine Wäsche,« fuhr die Betschwester fort, »und ich erinnere mich, daß er erschrecklich verschmutzt.«
Pitou verschmutzte allerdings sehr, und das ist begreiflich, wenn man sich des Lebens erinnern will, das er führte; doch man mußte ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen: er zerriß noch viel mehr, als er verschmutzte.
»Ah!« sagte der Doktor, »pfui, Mademoiselle Angélique; Sie, die Sie so sehr die christliche Liebe üben, machen solche Berechnungen bei einem Neffen und Paten!«
»Abgesehen von der Unterhaltung der Kleider,« rief die alte Frömmlerin aus, die sich erinnerte, ihre Schwester Madeleine beständig mit Flickereien und Ausbesserungen an den Wämsern und Hosen ihres Neffen beschäftigt gesehen zu haben.
»Sie weigern sich also, Ihren Neffen zu sich zu nehmen?« sagte der Doktor; »von der Schwelle seiner Tante zurückgestoßen, wird die Waise genötigt sein, Almosen auf der Schwelle fremder Häuser zu fordern.«
So habgierig sie auch war, so begriff die Betschwester doch das Gehässige, das ganz natürlich auf sie zurückfallen müßte, wäre ihr Neffe, durch ihre Weigerung, ihn aufzunehmen, genötigt, diese Aeußerste zu ergreifen.
»Nein,« sagte sie, »ich behalte ihn bei mir.«
»Ah!« sprach der Doktor, »glücklich, ein gutes Gefühl in diesem Herzen zu finden, das er für vertrocknet hielt.«
»Ja,« fuhr die alte Mademoiselle fort, »ich werde ihn den Augustinern von Bourg-Fontaine empfehlen, und er wird bei ihnen als Laienbruder eintreten.«
Der Doktor war, wie gesagt, Philosoph. Man kennt den Wert des Wortes Philosoph in jener Zeit.
Er beschloß daher auf der Stelle, den Augustinern einen Neophyten zu entreißen, und zwar mit demselben Eifer, den die Augustiner ihrerseits angewandt hätten, den Philosophen einen Adepten zu entführen.
»Nun wohl!« sprach er, indem er die Hand an seine tiefe Tasche drückte, »da Sie in einer so schlimmen Lage sind, meine liebe Demoiselle Angélique, da Sie sich in Ermanglung eigener Mittel genötigt sehen, Ihren Neffen der Wohlthätigkeit anderer zu empfehlen, so werde ich jemand suchen, der wirksamer als Sie zum Unterhalt des armen verwaisten Knaben die Summe anzuwenden vermag, die ich für ihn bestimmt habe . . . Ich muß nach Amerika zurückkehren und werde vor meinem Abgang Ihren Neffen Pitou in die Lehre bei einem Tischler oder bei einem Stellmacher bringen. Er selbst soll übrigens einen Stand nach seiner Neigung wählen. Während meiner Abwesenheit wird er groß werden, und bei meiner Rückkehr wird er schon geschickt in seinem Handwerk sein, und ich werde dann sehen, was sich für ihn thun läßt. Auf, mein Kind, küsse deine Tante und laß uns gehen,« fügte der Doktor bei.
Der Doktor hatte noch nicht vollendet, als Pitou schon mit seinen zwei langen Armen auf die Mademoiselle zustürzte; es drängte ihn in der That sehr, seine Tante zu küssen, unter der Bedingung, daß dieser Kuß zwischen ihm und ihr das Zeichen einer ewigen Trennung wäre.
Doch bei dem Worte die Summe, bei der Gebärde des Doktors, der seine Hand in seine Tasche steckte, beim silbernen Klang, den diese Hand eine Masse von großen Thalern, deren Quantum man nach der Ausdehnung des Rockes berechnen konnte, von sich geben ließ, hatte die alte Mademoiselle die Hitze der Habgier bis zu ihrem Herzen aufsteigen gefühlt.
»Ah!« sagte sie, »mein lieber Herr Gilbert, Sie wissen eines wohl.«
»Was?« fragte der Doktor.
»Ei! mein guter Gott! daß niemand in der Welt das arme Kind so sehr lieben wird, als ich!«
Und ihre magern Arme mit den ausgestreckten Armen von Pitou verschlingend, drückte sie auf jede seiner Wangen einen sauren Kuß, der ihn von den Fußspitzen bis zu den Haarwurzeln schauern machte.
»Oh! gewiß,« sagte der Doktor, »ich weiß das wohl, und ich zweifelte so wenig an Ihrer Freundschaft für ihn, daß ich ihn unmittelbar zu Ihnen, als seiner natürlichen Stütze, brachte. Aber was Sie mir soeben sagten, liebe Demoiselle, hat mich zugleich von Ihrem guten