Der scharlachrote Buchstabe. Hawthorne Nathaniel

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Der scharlachrote Buchstabe - Hawthorne Nathaniel

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Fähigkeiten zu bemerken ist, außer insofern Perle bei dem Mangel an menschlichen Spielgenossen mehr auf die visionären Wesen, welche sie erschuf, angewiesen war. Die Sonderbarkeit lag in den feindlichen Gefühlen, mit welchem das Kind alle diese Sprößlinge ihres eigenen Herzens und Geistes betrachtete. Sie erschuf nie einen Freund, sondern schien stets die Drachenzähne auszusäen, aus denen eine Ernte von bewaffneten Feinden hervorkeimte, gegen die sie in den Kampf stürmte. Es war unaussprechlich traurig! Welche Tiefe von Kummer mußte es für eine Mutter sein, die in ihrem eigenen Herzen den Grund davon fühlte, an einem so jungen Wesen dieses beständige Erkennen einer feindlichen Welt und eine so gewaltsame Einübung der Kräfte zu erkennen, welche in dem Kampfe, der erfolgen mußte, ihre Sache vertreten sollten!

      Wenn Esther Prynne auf Perle blickte, so ließ sie oft ihre Arbeit sinken und rief mit einer Pein, die sie gern verborgen hätte, die sich aber in Tönen, die zwischen der Rede und einem Stöhnen lagen, Luft machte: »Vater im Himmel! Wenn du noch mein Vater bist – was ist dieses Wesen, das ich auf die Welt gebracht habe?« Und Perle, die den Ausruf hörte oder durch irgendeinen feinen Kanal diese Kundgebungen der Pein bemerkte, wendete dann ihr lebhaftes schönes Gesichtchen ihrer Mutter zu, lächelte mit koboldartigem Verständnis und fuhr in ihren Spielen fort.

      Eine Eigentümlichkeit in dem Benehmen des Kindes muß noch mitgeteilt werden. Das erste, was sie in ihrem Leben bemerkt hatte, war – was wohl? – nicht das Lächeln der Mutter, dem sie, wie andere Kinder mit jenem schwachen Lächeln des kleinen Mundes geantwortet hätte, dessen man sich später so zweifelhaft und mit so zärtlicher Überlegung, ob es wirklich ein Lächeln gewesen sei, erinnert – nein, keineswegs. Der erste Gegenstand, welchen Perle zu bemerken schien, war – müssen wir es sagen? – der Scharlachbuchstabe auf Esthers Brust! Eines Tages, als sich die Mutter über die Wiege beugte, waren die Augen des Kindes von dem Schimmer der Goldstickerei um den Buchstaben angezogen worden, und es hatte seine kleine Hand erhoben, und lächelnd, nicht zweifelhaft, sondern mit einem entschiedenen Freudenstrahle, welcher seinem Gesicht das Aussehen eines weit älteren Kindes verlieh, darnach gegriffen. Da hatte Esther Prynne, nach Atem ringend, das schicksalhafte Zeichen erfaßt und instinktgemäß versucht, es hinwegzureißen, so unermeßlich war die Qual, welche die verständige Berührung der Säuglingshand Perlens ihr zugefügt hatte. Und wieder blickte Perle in ihre Augen, als ob die schmerzvolle Gebärde ihrer Mutter nur in der Absicht hervorgebracht worden sei, ihr ein Spiel zu bereiten – und lächelte.

      Von dieser Zeit an hatte Esther, außer wenn das Kind schlief, keinen Augenblick der Sicherheit, keinen Augenblick des ruhigen Genusses gefunden. Allerdings vergingen zuweilen Wochen, während welcher Perlens Blick sich nie auf den Scharlachbuchstaben zu heften schien, dann aber kam er unerwartet wie der Streich plötzlichen Todes und stets mit dem eigentümlichen Lächeln und dem sonderbaren Ausdrucke der Augen.

      Einmal trat dieser neckische Koboldausdruck in die Augen des Kindes, während Esther in ihm ihr eigenes Bild anblickte, wie es die Mütter gern tun, und plötzlich – denn einsam lebende Frauen mit geplagtem Herzen werden von unerklärlichen Täuschungen verfolgt – kam es ihr vor, als ob sie nicht ihr eigenes Miniatur-Porträt, sondern ein anderes Gesicht in dem kleinen schwarzen Spiegel in Perlens Auge erblickte. Es war ein dämonisches Gesicht voll lächelnder Bosheit und doch ähnelte es Zügen, welche sie gut gekannt hatte, wenn auch selten mit einem Lächeln und nie mit einem boshaften Ausdruck. Es war, als ob das Kind von einem bösen Geiste besessen sei, der soeben spöttisch herausgeschaut habe. Noch oftmals später war Esther, wenn auch weniger lebhaft, von dem gleichen Gaukelspiel gequält worden.

      Am Nachmittage eines Sommertages, als Perle schon groß genug geworden war, um umherzulaufen, unterhielt sie sich damit, daß sie Hände voll wilder Blumen pflückte, sie einzeln nach der Brust ihrer Mutter warf und auf und ab tanzte, wie ein kleiner Kobold, wenn sie den Scharlachbuchstaben traf. Esthers erster Antrieb war es gewesen, ihre Brust mit ihren gefalteten Händen zu bedecken; aber, sei es nun aus Stolz oder aus Resignation, oder dem Gefühle, daß ihre Buße am besten durch diese unaussprechliche Pein befördert werden könne, – sie widerstand der Regung und blieb aufrecht und totenbleich sitzen und blickte traurig in die milden Augen der kleinen Perle. Die Beschießung mit Blumen dauerte fort, traf fast ohne Ausnahme ihr Ziel und bedeckte die Brust der Mutter mit Wunden, für welche sie auf dieser Welt keinen Balsam finden konnte und nicht wußte, wie sie ihn in einer andern suchen sollte. Endlich waren alle Geschosse verbraucht, und das Kind blieb stehen und blickte Esther an, während das kleine, lachende Dämonenbild aus dem unerforschlichen Abgrund ihrer schwarzen Augen hervorschaute, oder, wenn dies auch nicht der Fall war, es doch ihrer Mutter so vorkam.

      »Kind, wer bist du?« rief die Mutter.

      »Oh, ich bin deine kleine Perle!« antwortete das Kind.

      Während sie es aber sagte, lachte Perle und begann mit den munteren Gestikulationen eines kleinen Teufelchens, dessen nächster Streich es vielleicht sein könnte, den Schornstein hinaufzufliegen, auf und ab zu tanzen.

      »Und bist du denn wirklich mein Kind?« fragte Esther.

      Sie stellte die Frage nicht vollkommen müßigerweise, sondern für den Augenblick mit einem Anteil echten Ernstes, denn Perlens wunderbarer Verstand war so groß, daß ihre Mutter halb und halb im Zweifel war, ob sie nicht vielleicht den geheimen Zauberspruch ihrer Existenz kenne und sich jetzt offenbaren werde.

      »Ja, ich bin die kleine Perle!« wiederholte das Kind, indem es seine Sprünge fortsetzte.

      »Du bist nicht mein Kind! Du bist nicht meine Perle«, sagte die Mutter halb scherzhaft, denn es traf sich oft, daß mitten in ihrem tiefsten Leiden sich bei ihr ein neckischer Antrieb einstellte. »So sage mir, wer du bist und wer dich geschickt hat.«

      »Sage du es mir, Mutter«, sprach das Kind ernsthaft, indem es zu Esther herankam und sich dicht an ihre Knie schmiegte. »Sage du es mir.«

      »Dein himmlischer Vater hat dich geschickt«, antwortete Esther Prynne.

      Sie sagte dies aber mit einem Zaudern, welches dem Scharfsinn des Mädchens nicht entging. Mochte sie nun bloß von ihrer gewöhnlichen Schelmerei angetrieben werden oder ein böser Geist ihr es eingeflüstert haben, sie erhob ihren kleinen Zeigefinger und rührte den Scharlachbuchstaben an.

      »Er hat mich nicht geschickt!« rief sie bestimmt, »ich habe keinen himmlischen Vater!«

      »Still, Perle, still, du darfst nicht so sprechen«, antwortete die Mutter, indem sie ein Stöhnen unterdrückte, »er hat uns alle auf die Welt geschickt; er hat selbst mich, deine Mutter, gesendet; um wieviel mehr also dich! Oder wenn es nicht so ist, du seltsames Elfenkind, woher bist du denn gekommen?«

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