Die Verwirrungen des Zöglings Törless. Robert Musil
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Читать онлайн книгу Die Verwirrungen des Zöglings Törless - Robert Musil страница 8
Als die beiden Freunde eintraten, lag sie wie gewöhnlich rauchend und lesend auf ihrem Bette.
Törleß sog, noch in der Türe stehend, mit begierigen Augen ihr Bild in sich ein.
»Gott, was für süße Buben kommen denn da?« rief sie spöttisch den Eintretenden entgegen, die sie ein wenig verächtlich musterte. »Je, du Baron? Was wird denn die Mama dazu sagen?!« – Das war solch ein Anfang nach ihrer Art.
»Aber haltʼs . . .« brummte Beineberg und setzte sich zu ihr aufs Bett. Törleß setzte sich abseits; er ärgerte sich, weil Božena sich nicht um ihn bekümmerte und tat, als ob sie ihn nicht kennte.
Die Besuche bei diesem Weib waren in der letzten Zeit zu seiner einzigen und geheimen Freude geworden. Gegen Ende der Woche wurde er schon unruhig und konnte den Sonntag nicht erwarten, wo er am Abend zu ihr schlich. Hauptsächlich dieses Sicheinschleichenmüssen beschäftigte ihn. Wenn es zum Beispiel vorhin den trunkenen Burschen in der Schankstube eingefallen wäre, auf ihn Jagd zu machen? Aus bloßer Lust, dem lasterhaften jungen Herrchen eins auszuwischen? Er war nicht feig, aber er wußte, daß er hier wehrlos sei. Der zierliche Degen kam ihm entgegen diesen groben Fäusten wie ein Spott vor. Außerdem die Schande und die Strafe, die er zu gewärtigen hätte! Es bliebe ihm nur übrig zu fliehen oder sich aufs Bitten zu verlegen. Oder sich von Božena schützen zu lassen. Der Gedanke durchrieselte ihn. Aber das war es! Nur das! Nichts anderes! Diese Angst, dieses Sichaufgeben lockte ihn jedesmal von neuem. Dieses Heraustreten aus seiner bevorzugten Stellung unter die gemeinen Leute; unter sie – tiefer als sie!
Er war nicht lasterhaft. Bei der Ausführung überwogen stets der Widerwille gegen sein Beginnen und die Angst vor den möglichen Folgen. Nur seine Phantasie war in eine ungesunde Richtung gebracht. Wenn sich die Tage der Woche bleiern einer nach dem andern über sein Leben legten, fingen diese beizenden Reize an, ihn zu locken. Aus den Erinnerungen an seine Besuche bildete sich eine eigenartige Verführung heraus. Božena erschien ihm als ein Geschöpf von ungeheuerlicher Niedrigkeit und sein Verhältnis zu ihr, die Empfindungen, die er dabei zu durchlaufen hatte, als ein grausamer Kultus der Selbstaufopferung. Es reizte ihn, alles zurücklassen zu müssen, worin er sonst eingeschlossen war, seine bevorzugte Stellung, die Gedanken und Gefühle, die man ihm einimpfte, all das, was ihm nichts gab und ihn erdrückte. Es reizte ihn, nackt, von allem entblößt, in rasendem Laufe zu diesem Weibe zu flüchten.
Das war nicht anders als bei jungen Leuten überhaupt. Wäre Božena rein und schön gewesen und hätte er damals lieben können, so hätte er sie vielleicht gebissen, ihr und sich die Wollust bis zum Schmerz gesteigert. Denn die erste Leidenschaft des erwachsenden Menschen ist nicht Liebe zu der einen, sondern Haß gegen alle. Das sich unverstanden Fühlen und das die Welt nicht Verstehen begleitet nicht die erste Leidenschaft, sondern ist ihre einzige nicht zufällige Ursache. Und sie selbst ist eine Flucht, auf der das Zuzweiensein nur eine verdoppelte Einsamkeit bedeutet.
Fast jede erste Leidenschaft dauert nicht lange und hinterläßt einen bitteren Nachgeschmack. Sie ist ein Irrtum, eine Enttäuschung. Man versteht sich hinterher nicht und weiß nicht, was man beschuldigen soll. Dies kommt, weil die Menschen in diesem Drama einander zum größeren Teile zufällig sind: Zufallsgefährten auf einer Flucht. Nach der Beruhigung erkennen sie sich nicht mehr. Sie bemerken aneinander Gegensätze, weil sie das Gemeinsame nicht mehr bemerken.
Bei Törleß war es nur darum anders, daß er allein war. Die alternde, erniedrigte Prostituierte vermochte nicht alles in ihm auszulösen. Doch war sie soweit Weib, daß sie Teile seines Inneren, die wie reifende Keime noch auf den befruchtenden Augenblick warteten, gleichsam frühzeitig an die Oberfläche riß.
Das waren dann seine sonderbaren Vorstellungen und phantastischen Verführungen. Fast ebenso nahe lag es ihm aber manchmal, sich auf die Erde zu werfen und vor Verzweiflung zu schreien.
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Božena bekümmerte sich noch immer nicht um Törleß. Sie schien es aus Bosheit zu tun, bloß um ihn zu ärgern. Plötzlich unterbrach sie ihr Gespräch: »Gebt mir Geld, ich werde Tee und Schnaps holen.«
Törleß gab ihr eines der Silberstücke, die er am Nachmittage von seiner Mutter erhalten hatte.
Sie holte vom Fensterbrett einen zerbeulten Schnellsieder und zündete den Spiritus an; dann stieg sie langsam und schlürfend die Treppe hinunter.
Beineberg stieß Törleß an. »Warum bist du denn so fad? Sie wird denken, du traust dich nicht.«
»Laß mich aus dem Spiel,« bat Törleß, »ich bin nicht aufgelegt. Unterhalte nur du dich mit ihr. Was will sie übrigens fortwährend mit deiner Mutter?«
»Seit sie weiß, wie ich heiße, behauptet sie, einmal bei meiner Tante in Dienst gewesen zu sein und meine Mutter gekannt zu haben. Zum Teil scheint es wohl wahr zu sein, zum Teil lügt sie aber sicher – rein zum Vergnügen: obwohl ich nicht recht verstehe, was ihr daran Spaß macht.«
Törleß wurde rot; ein merkwürdiger Gedanke war ihm eingefallen. – Da kam aber Božena mit dem Schnaps zurück und setzte sich wieder neben Beineberg aufs Bett. Sie griff auch gleich wieder das frühere Gespräch auf.
». . . Ja, deine Mama war ein schönes Mädchen. Du siehst ihr eigentlich gar nicht ähnlich, mit deinen abstehenden Ohren. Auch lustig war sie. Mehr als einer wird sie sich wohl in den Kopf gesetzt haben. Recht hat sie gehabt.«
Nach einer Pause schien ihr etwas besonders Lustiges eingefallen zu sein: »Dein Onkel, der Dragoneroffizier, weißt du? Karl hat er glaube ich geheißen, er war ein Kousin deiner Mutter, der hat ihr damals den Hof gemacht! Aber Sonntags, wenn die Damen in der Kirche waren, ist er mir nachgestiegen. Alle Augenblicke habe ich ihm etwas anderes aufs Zimmer bringen müssen. Fesch war er, das weiß ich heute noch, nur hat er sich so gar nicht geniert . . .« Sie begleitete diese Worte mit einem vielsagenden Lachen. Dann verbreitete sie sich weiter über dieses Thema, das ihr augenscheinlich besonderes Vergnügen bereitete. Ihre Worte waren familiär, und sie brachte sie mit einem Ausdruck vor, der jedes einzelne beschmutzen zu wollen schien. ». . . Ich meine, er hat auch deiner Mutter gefallen. Wenn sie das nun gewußt hätte! Ich glaube, deine Tante hätte mich und ihn aus dem Hause schmeißen müssen. So sind nun einmal die feinen Damen, gar wenn sie noch keinen Mann haben. Liebe Božena das und liebe Božena jenes – so ist es den ganzen Tag gegangen. Als aber die Köchin in die Hoffnung kam, da hättest duʼs hören sollen! Ich glaube gar, sie meinten, daß sich unsereins nur einmal im Jahr die Füße wasche. Der Köchin sagten sie zwar nichts, aber ich konnte es hören, wenn ich im Zimmer bediente und sie gerade davon sprachen. Deine Mutter machte ein Gesicht, als möchte sie am liebsten nur Kölnerwasser trinken. Dabei hatte deine Tante gar nicht lange danach selbst einen Bauch bis zur Nase . . .«
Während Božena sprach, fühlte sich Törleß ihren gemeinen Anspielungen fast wehrlos preisgegeben.
Was sie schilderte, sah er lebendig vor sich. Beinebergs Mutter wurde zu seiner eigenen. Er erinnerte sich der hellen Räume der elterlichen Wohnung. Der gepflegten, reinen, unnahbaren Gesichter, die ihm zu Hause bei den Diners oft eine gewisse Ehrfurcht eingeflößt hatten. Der vornehmen, kühlen Hände, die sich selbst beim Essen nichts zu vergeben schienen. Eine Menge solcher Einzelheiten fiel ihm ein und er schämte sich, hier in einem kleinen übelriechenden Zimmer zu sein und mit einem Zittern auf die demütigenden Worte einer Dirne zu antworten. Die Erinnerung an die vollendete Manier dieser nie formvergessenen Gesellschaft wirkte stärker auf ihn als alle moralische Überlegung. Das Wühlen seiner dunklen Leidenschaften kam ihm lächerlich vor. Mit visionärer Eindringlichkeit sah er eine kühle, abwehrende Handbewegung, ein chokiertes Lächeln, mit dem man ihn wie ein kleines unsauberes