Hochsensibilität. Brigitte Schorr
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Hochsensibilität - Brigitte Schorr страница 3
Jeder Mensch ist in einem gewissen Grad sensibel. Wenn jemand nicht hochsensibel ist, bedeutet das nicht, er oder sie sei unsensibel. Hochsensible Menschen scheinen jedoch nicht über einen Filter zwischen sich und der Umwelt zu verfügen, sodass sie viel weniger Reize ausblenden oder ignorieren können.
2. Hochsensibilität – sinnvolle Erbanlage?
Dabei ist der Prozentsatz von hochsensiblen Menschen nicht gerade klein: Forschungen belegen, dass ca. 15–20 % aller Menschen hochsensibel sind. Bei dieser Verteilung ist kein Unterschied zwischen den Geschlechtern feststellbar. Es gibt genauso viele weibliche Hochsensible wie männliche. Sie werden mit einem Nervensystem geboren, welches sie innere und äußere Reize wie durch einen Verstärker wahrnehmen lässt. Dass die Veranlagung zur Hochsensibilität in den meisten Fällen angeboren ist, belegen vor allem Studien von eineiigen Zwillingen, die getrennt aufwuchsen, aber ähnliche Verhaltensmuster zeigten.3 Sensibilität gehört aber wie alle anderen Wesenszüge auch zu den veränderlichen Persönlichkeitsmerkmalen eines Menschen. Im Laufe des Lebens kann man sensibler werden, oder eben auch nicht, aber die Disposition dazu ist angelegt.
Studien an Säuglingen haben gezeigt, dass es unter den Neugeborenen eine Gruppe gibt (eben 15–20 %), die stärker auf Reize reagiert, schwerer zu beruhigen ist und insgesamt weniger »belastbar« zu sein scheint. Es ist aber im Erwachsenenalter oft schwer zu sagen, ob »man immer schon so war«, weil sich aufgrund der gemachten Bindungserfahrungen und der Art und Weise, wie die Umwelt auf diese Eigenschaft reagiert hat, Muster herausbilden, die entweder verstärkend oder abwehrend sein können. Hochsensibilität lässt sich grundsätzlich jedoch nicht abtrainieren oder »wegtherapieren«. Es gibt leider nur zu viele Hochsensible, die alles daransetzen, ihre Sensibilität nicht sichtbar werden zu lassen.
Parallelstudien haben das gleiche Ergebnis auch im Tierreich nachgewiesen. Es scheint so zu sein, dass hochsensible Individuen auch bei höheren Säugetieren, vor allem bei Katzen, Hunden, Pferden und Nagetieren vorkommen, und zwar zum gleichen Prozentsatz. Elaine Aron, 4 klinische Psychologin aus San Francisco und Pionierin in der Erforschung der Hochsensibilität, zieht daraus den Schluss, dass diese Eigenschaft nützlich für die ganze Spezies ist. Dieser Gedanke ist bestechend, denn es scheint nahezuliegen, dass Tiere, die vorsichtiger sind, langsamer, Gefahren eher bemerken oder Wasserstellen leichter aufspüren, der ganzen Herde nützlich sind. Nicht ganz so eindeutig liegt der Fall bei ausgesprochenen Einzelgängern wie zum Beispiel Katzen, wie Georg Parlow in seinem Buch »Zart besaitet« ausführt.5
So, wie alles Leben immer komplex ist und sich in verschiedene Richtungen interpretieren lässt, liegt wahrscheinlich auch in diesem Punkt eine mögliche Wahrheit in zwei Gedankengängen verborgen: 1. Der Wesenszug Hochsensibilität ist für die gesamte Gattung Mensch nützlich und 2. dem einzelnen Individuum. Zum Nutzen für die Gesellschaft wird er aber erst, wenn sich das Individuum damit ausgesöhnt hat und die hohe Empfindlichkeit nützlich in sein Leben integriert.
3. Geschichtliche Entwicklung der Forschung
Dr. Elaine Aron kommt der Verdienst zu, den Begriff »highly sensitive person« geprägt und als eigenständige Veranlagung erforscht und beschrieben zu haben. Zusammen mit ihrem Mann hat sie umfangreiche Studien über hochsensible Menschen durchgeführt. Ihre Bücher (siehe weiterführende Literatur) zählen zu den Standardwerken und stellen die Grundlagenliteratur zu diesem Thema dar.
Dabei ist die Tatsache und das Wissen darum, dass es empfindlichere Naturen als andere gibt, nicht neu. Bereits in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts beschrieb der deutsche Psychologe Eduard Schweingruber »den sensiblen Menschen«. Alice Miller beschäftigte sich mit »dem begabten Kind« und C. G. Jung betrieb seine intensiven Forschungen über Introversion. Studien wie von Jerome Kagan über »gehemmte Kinder« und von Ivan Pawlow zur »Reizbarkeit« belegten, dass ein gleichbleibender Anteil der Probanden (eben die o. g. 15–20 %) eine deutlich niedrigere Reizschwelle aufwiesen als die übrigen 80–85 %.
Aufgrund der Bedeutsamkeit für hochsensible Menschen möchte ich diese Untersuchungen im Folgenden ausführlicher darstellen6:
Ivan Pawlow, seines Zeichens russischer Physiologe, der 1904 für seine Versuche zum bedingten Reflex (»Pawlow’scher Hund«) den Nobelpreis erhielt, stellte auch Versuche zur Empfindsamkeit an. Er wollte herausfinden, ob es eine objektive Messbarkeit der Empfindlichkeit gibt. Zu diesem Zweck setzte er Versuchspersonen steigendem Lärm aus. Es überrascht nicht, dass er feststellte, dass die Versuchspersonen eine unterschiedliche Reizempfindlichkeit aufwiesen. Jedoch hatte er nicht damit gerechnet, dass das Ergebnis seiner Forschungen auf zwei deutlich voneinander unterscheidbare Gruppen von Menschen hinwies: 15–20 % der Probanden erreichten die Grenze ihrer Belastbarkeit sehr schnell, dann kam lange nichts mehr, bis schließlich die restlichen 85 % anfingen, nacheinander »dichtzumachen«. Pawlow schloss daraus die für Hochsensible wichtige Erkenntnis, dass sich das Nervensystem der beiden Gruppen fundamental voneinander unterschied. Es ist bemerkenswert, dass diese Erkenntnis nicht mehr Beachtung erfuhr. Ich werde an späterer Stelle (Kapitel I.6) darauf zurückkommen.
Jerome Kagan, Psychologe der Harvard University, untermauerte mit seinen Forschungsergebnissen diese Resultate. Er setzte Säuglinge verschiedenen Reizen aus und beobachtete deren Reaktion. 20 % der Kinder reagierten stark auf Stimulation, zappelten, weinten und versuchten zu entkommen. Kagan bezeichnete diese Kinder als »gehemmt«, weil sie sich in späteren Jahren zu deutlich vorsichtigeren, zurückhaltenderen Kindern entwickelten. Keine sehr positive Bezeichnung für die sehr verständliche Reaktion auf Überstimulation. Für Kagan waren diese Kinder »von Natur aus« gehemmt. Aus meiner Sicht lernten die Kinder aber aus ihrer Erfahrung mit einer oft für sie überstimulierenden Umwelt, vorsichtiger zu sein und zurückhaltend und »schüchtern« zu reagieren.
Untersuchungen an Rhesusäffchen haben ergeben, dass diese Affenart über ein Gen verfügt (5-HIT, »kurzer Arm« genannt), welches sie von Anfang an empfindsam, ängstlich und beziehungsscheu macht. Zitat aus einem unveröffentlichten Vortrag: »… Eine Durchschnittsmutter mit gesundem Affenverstand wird diese Mimöschen so vor den Kopf stoßen, dass sie keine gute Mutterbindung eingehen können und später sexuelle Hemmungen, Neurosen und Depressionen entwickeln. Mit der Affenliebe einer besonders empathischen Mutter aber überwinden diese Äffchen ihre anfängliche Ängstlichkeit und werden sogar oft zu sozial besonders kompetenten Affenbürgern. Dieses Gen wirkt übrigens auf ähnliche Weise auch bei einer Anzahl von Menschenkindern.«7
Passend dazu gibt es Untersuchungen im Bereich der Entwicklungspsychologie, die belegen, dass viele besonders stressanfällige Kinder (zu denen sicher auch hochsensible Kinder zu zählen sind) Genvarianten tragen, die sie für Einflüsse von außen besonders empfänglich machen.
Forscher sind der Ansicht, dass Veranlagungen, die in den Genen gespeichert sind, ihren Nutzen und guten Zweck für die ganze Spezies haben (vgl. II.1. Epigenetik).8
Es stellt sich die Frage, warum erst seit Mitte der 90er-Jahre mit Elaine Aron das Thema Hochsensibilität eine breite Resonanz in der Öffentlichkeit fand. Schon lange vorher beschäftigten sich, wie oben