Kind in seinen Armen. Brennan Manning

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Kind in seinen Armen - Brennan Manning Edition Aufatmen

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mich lange verdrängten Erinnerungen und Gefühlen aus meiner Kindheit zu stellen. Den Rest des Tages verbrachte ich allein in meiner Hütte, ohne Fernseher, ohne Radio und ohne irgendeine Art von Lektüre.

      Während die Tage so verstrichen, ging mir mit einem Mal auf, dass ich seit meinem achten Lebensjahr nicht mehr fähig war, wirklich etwas zu empfinden. Ein traumatisches Erlebnis in jener Zeit hatte die Erinnerung für die nächsten neun Jahre und die Gefühle für die nächsten fünf Jahrzehnte ausgelöscht.

      Als ich acht war, wurde der Schwindler, mein falsches Ich, als Abwehr gegen den Schmerz geboren. Der Schwindler in mir flüsterte: »Brennan, du kannst nie mehr so sein, wie du wirklich bist, weil dich so niemand mag. Erfinde ein neues Ich, das alle bewundern und das niemand richtig kennt.« So wurde ich ein braver Junge – höflich, wohlerzogen, unaufdringlich und rücksichtsvoll. Ich lernte fleißig, bekam hervorragende Noten, erhielt ein Stipendium – und wurde in jedem wachen Augenblick von der Angst verfolgt, verlassen zu werden … und von dem Gefühl, im Grunde keinen Menschen zur Seite zu haben.

      Ich lernte, dass eine möglichst vollkommene Verstellung mir die Anerkennung und Bestätigung brachte, nach der ich mich so verzweifelt sehnte. Ich bewegte mich in einer gefühllosen Zone, in der ich Furcht und Scham in sicherem Abstand halten konnte. Wie mein Therapeut bemerkte: »Eine dichte Stahltür hat in all den Jahren Ihre Gefühle verschlossen und Ihnen den Zugang zu ihnen verwehrt.« Der Schwindler hingegen, den ich der Öffentlichkeit präsentierte, gab sich die ganze Zeit nonchalant und pflegeleicht.

      Die große Trennung zwischen Kopf und Herz dauerte während meines gesamten Dienstes an. Achtzehn Jahre lang verkündigte ich die gute Nachricht von Gottes leidenschaftlicher und bedingungsloser Liebe – vom Kopf her völlig überzeugt, aber in meinem Herzen spürte ich nichts davon. Eine Szene in dem Kinofilm Postcards from the Edge bringt treffend zum Ausdruck, was in mir vorging. Ein Hollywoodstar (Meryl Streep) hört von ihrem Regisseur (Gene Hackman), was für ein wundervolles Leben sie doch habe und wie jede Frau sie um ihren Erfolg beneiden müsse. Streep erwidert: »Ja, ich weiß. Aber wissen Sie was? Ich spüre überhaupt nichts von meinem Leben. Ich habe mein Leben und all diese guten Sachen nie wirklich spüren können.«

      Am zehnten Tag meiner Bergeinsamkeit brach ich plötzlich in ein heftiges Schluchzen aus. Ein großer Teil meiner Gefühllosigkeit und scheinbaren Unverwundbarkeit rührte daher, dass ich mich weigerte, über das Fehlen zärtlicher Worte und liebevoller Berührungen Trauer zu empfinden.

      Doch als ich aus dem »Kelch der Trauer« trank, geschah etwas Bemerkenswertes: Von fern hörte ich plötzlich Musik und Tanz. Ich selbst war der verlorene Sohn, der nach Hause gehumpelt kam, nicht Zuschauer, sondern Teilnehmer. Der Schwindler verschwand, und ich lebte plötzlich wieder mein wahres Ich – ich war ein Kind, das zu Gott zurückkehrte.

      Bislang hatte ich mich meiner selbst nie sicher gefühlt, solange ich nicht fehlerfrei funktionierte. Mein Wunsch, perfekt zu sein, war größer als mein Verlangen nach Gott. Tyrannisiert von einer Alles-oder-nichts-Mentalität deutete ich Schwäche als Mittelmäßigkeit und Inkonsequenz als Folge schwacher Nerven. Mitleid und Selbstannahme hielt ich für völlig unpassende Reaktionen. Meine verzerrte Vorstellung von mir selbst als Versager und gänzlich unzulänglicher Mensch ließ mich alle Selbstachtung verlieren, wodurch ich in Phasen von leichter Depression und starken Angstattacken geriet. Und ganz unbewusst hatte ich meine Gefühle für mich selbst auf Gott projiziert. Ich fühlte mich nur dann bei ihm sicher, wenn ich mich selbst als edel, großzügig und liebenswürdig sehen konnte, ohne Narben, Ängste oder Tränen. Mit einem Wort: Perfekt!

      Doch an jenem strahlenden Morgen in einer Hütte tief in den Bergen von Colorado verließ ich mein Versteck. Jesus hob den Schleier der perfektionistischen Anstrengungen, und erlöst und von der Schuld befreit lief ich zu ihm nach Hause. Jetzt wusste ich, dass jemand für mich da war. In der Tiefe meiner Seele gepackt, die Wangen tränenverschmiert, nahm ich endlich all die Worte, die ich selbst über die hartnäckige, unnachgiebige Liebe gesagt und geschrieben hatte, für mich ganz persönlich in Anspruch und konnte sie zum ersten Mal wirklich spüren. An jenem Morgen begriff ich, dass Worte im Vergleich zur Wirklichkeit nur Stroh sind. Ich war nicht mehr jemand, der Gottes Liebe verkündigte, sondern ein Mensch, an dem Abba seine Freude hat. Ich sagte den Angstgefühlen Ade und Schalom zum Gefühl der Sicherheit. Am selben Nachmittag schrieb ich in mein Tagebuch:

      Sich sicher fühlen heißt aufhören, mit dem Kopf zu leben, und sich tief in das eigene Herz versenken, sich gemocht und angenommen fühlen … sich nicht mehr verstecken und mit Büchern, Fernsehen, Filmen, Eiskrem, oberflächlichen Unterhaltungen ablenken müssen … in der Gegenwart bleiben und nicht in die Vergangenheit fliehen oder die Zukunft herbeisehnen, jetzt wach und aufmerksam sein … entspannt sein und nicht nervös und rastlos … Es ist nicht mehr nötig, andere zu beeindrucken oder zu blenden oder die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken … Unbefangen in die Welt zu treten, mit einer ganz neuen Art, mit mir selbst umzugehen … ruhig, frei von Angst, keine Bedenken, was als Nächstes passieren könnte … geliebt und geachtet … sich einfach bei sich selbst wohlfühlen.

      Thomas Merton sagte einmal zu einem Mönchsbruder über diese selbstvergessene, freie Art zu leben: »Wenn ich irgendetwas daraus mache, dass ich Thomas Merton bin, dann bin ich tot. Und wenn du irgendetwas daraus machst, dass du für die Schweine zuständig bist, dann bist du tot.« Mertons Lösung? »Hör auf, überhaupt Buch zu führen, und überlass dich mit all deiner Sündhaftigkeit Gott, der weder die Punkte noch den Schiedsrichter sieht, sondern nur sein durch Christus versöhntes Kind.«10

      Schon vor sechshundert Jahren schrieb Juliana von Norwich: »Manche von uns glauben, dass Gott allmächtig ist und alles tun kann; und dass er weise ist und alles tun könnte; aber dass er auch Liebe ist und alles tun wird – davor scheuen wir zurück. Diese Unsicherheit, so scheint mir, ist das größte Hindernis für alle, die Gott lieben.«11

      Doch es gibt noch mehr Hindernisse. Alle die Dinge, derer wir uns schämen und die wir deshalb versuchen, in unserm Inneren zu vergraben. Gott will sie in seiner Liebe ans Licht holen und sie uns vergeben, damit sie uns nicht länger beherrschen können. Denken wir nur an die Worte des Apostels Paulus: »Alles, was aufgedeckt ist, wird vom Licht erleuchtet. Alles Erleuchtete aber ist Licht« (Epheser 5,13-14; Hervorh. B. M.).

      Gott vergibt und vergisst nicht nur unsere schändlichen Taten, er macht sogar aus ihrem Dunkel Licht. Alle Dinge müssen denen, die Gott lieben, zum Besten dienen (Römer 8,28), »selbst«, so fügte Augustinus hinzu, »unsere Sünden«.

      In dem Einakter von Thornton Wilder: Der Engel, der das Wasser bewegte (The Angel That Troubled the Waters), geht es um die Heilkraft des Wassers im Teich von Bethesda, wenn ein Engel von Zeit zu Zeit das Wasser bewegte (vgl. Johannes 5,1-4). Es wird aber nur der geheilt, der als erster hineinsteigt. Ein Arzt kommt regelmäßig zum Teich und hofft, einmal der Erste zu sein und von seiner Melancholie befreit zu werden.

      Schließlich kommt der Engel, aber er hält den Arzt fest, als er ins Wasser steigen will. Stattdessen befiehlt er ihm zurückzutreten, denn er sei nicht an der Reihe. Der Arzt fleht mit gebrochener Stimme um Hilfe, aber der Engel bleibt dabei, dass eine Heilung für ihn nicht vorgesehen sei.

      Das Gespräch geht hin und her – dann kommt das prophetische Wort des Engels: »Wo wäre deine Kraft ohne deine Wunden? Deine Melancholie ist es, die deine Stimme zittern und zu den Herzen von Männern und Frauen sprechen lässt. Selbst die Engel können die armseligen und ungeschickten Menschenkinder auf der Erde nicht so überzeugen, wie ein Mensch es kann, der selbst am Leben zerbrochen ist. Im Dienst der Liebe können nur verletzte Soldaten dienen. Arzt, tritt zurück!«

      Der Mann, der dann als erster in den Teich steigen darf und geheilt wird, freut sich über sein Glück. Doch später sagt er zu dem Arzt: »Bitte, komm zu mir. Es ist nur eine Stunde bis zu meinem Haus. Mein Sohn wird von dunklen Gedanken bedrückt.

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