Das Judentum. Michael Tilly

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Das Judentum - Michael  Tilly marixwissen

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südwestlich vom Tempelberg niederzulassen. Nicht wenige von ihnen traten in den folgenden Jahrzehnten zum Islam über, zumal dies geringere theologische Entscheidungen erforderte als der Übertritt zum Christentum.

      Unter dem Kalifat der Omajaden in Damaskus (661–750) und der Abbasiden in Bagdad (750–969) begannen die jüdischen Gemeinden in Palästina langsam wieder zu wachsen. Bedeutende Rabbinen kamen mit ihren Schülerkreisen aus Tiberias und setzten ihren Lehrbetrieb in Jerusalem, das die Araber »Al-Quds« (»die heilige [Stadt]«) nennen, fort. Seit dem 9. Jahrhundert siedelten sich hier auch Angehörige der Karäer (von hebr. »kara« = »lesen«) an, einer von dem babylonisch-jüdischen Gelehrten Anan ben David im 8. Jahrhundert gegründeten asketischen jüdischen Bewegung, die die rabbinische Tradition ablehnte und sich in ihrer Lehre allein auf die Bibel stützte. Der Name der Bewegung reflektiert die hohe Bedeutung, die sie den heiligen Schriften beimaßen. Bedeutende karäische Gelehrte gingen in den folgenden Jahrhunderten aus Jerusalem hervor.

      Im Mittelalter lebte der größere Teil des Judentums im islamischen Herrschaftsbereich. Der sogenannte »Omar-Vertrag« (Anfang 8. Jahrhundert) setzte den begrenzten rechtlichen Status dieser jüdischen Minorität unter dem Islam fest. Die jüdische Minderheit war abhängig vom Wohlwollen der muslimischen Herrscher bzw. der Mehrheitsgesellschaft und übernahm – wie alle vom Islam unterworfenen Völker – die Sprache ihrer Eroberer, musste eine besondere Kopfsteuer zahlen und war zu Einschränkungen in der Lebensführung gezwungen, die die Überlegenheit des Islams zum Ausdruck bringen sollten. Weder war es ihnen gestattet, Waffen zu tragen oder Siegelringe zu besitzen, noch Muslime zu beerben, muslimische Frauen zu heiraten oder muslimische Sklaven zu halten. Sie durften keine neuen Synagogen bauen, keine Mission treiben und keine staatlichen Ämter bekleiden. Sie mussten besondere Steuern zahlen und unter manchen Herrschern Signalkleidung tragen. Allein ihre körperliche Unversehrtheit, ihr Recht auf persönlichen Besitz und die innere Autonomie ihrer Gemeinden wurden ihnen garantiert.

      Mit dem Verfall des Kalifats und der hierdurch ausgelösten politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit in Palästina begann ein stetiger Zustrom verarmter jüdischer Bauern nach der Stadt Jerusalem. Mit der Landflucht ging eine Neuorientierung des jüdischen Erwerbslebens einher. Hatten zuvor die meisten Juden von der Landwirtschaft gelebt, so wandten sich die Zugezogenen nun dem Handwerk und dem Handel zu, um zu überleben. Im 10. Jahrhundert finden wir in Jerusalem Juden in 250 verschiedenen Handwerken. Auch das religiöse Leben in den jüdischen Gemeinden hatte sich differenziert. Im 11. Jahrhundert lebten in Palästina sowohl rabbanitische Gemeinden als auch Samaritaner (vgl. Kap. 1, Das Mutterland) und Karäer (s. o.).

      Der muslimische Geograph Mukaddasi (967–985) schilderte in seinem Reisebericht die beklagenswerten Zustände in der arabischen Provinzstadt Jerusalem: »Der Vergewaltigte findet keinen Helfer, der Vornehme ist in Sorgen und der Reiche beneidet. Der Rechtsgelehrte ist verlassen, der Sprachkundige wird nicht besucht; keine Forschungssitzung wird gehalten, kein Lehramt betrieben, Christen und Juden haben die Oberhand und die Moscheen bleiben ohne gottesdienstliche und gelehrte Versammlungen.« Wahrscheinlich richtete sich diese ausführliche Klage eher gegen die vom Autor befürchtete Verwässerung der muslimischen Lebensführung als gegen eine nichtmuslimische Vorherrschaft im wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Tatsächlich lebten die meisten jüdischen Bewohner des mittelalterlichen Palästina in großer Armut, zumal sie die zahlreichen Pilger, die aus aller Welt in die Heilige Stadt kamen, versorgen mussten und selbst auf die finanzielle Unterstützung reicher Gemeinden im Ausland (z. B. in Ägypten) angewiesen waren. Dennoch ließ der Fatimidenkalif Al-Hakim (996–1021) im Jahre 1009 viele Kirchen und Synagogen im Heiligen Land zerstören.

      Im Jahre 1099 fiel Jerusalem in die Hände der Kreuzfahrer (vgl. Kap. 1, Das Frankenreich und Deutschland). Diese richteten unter den Juden, die an der Verteidigung der Stadt beteiligt waren, ein Blutbad an, trieben sie in der Hauptsynagoge zusammen und steckten das Gebäude in Brand. Wer nicht getötet wurde, floh oder wurde vertrieben. Viele alte jüdische Grabdenkmäler verbauten die christlichen Eroberer in den von ihnen errichteten Kirchen. Die Kreuzfahrer erneuerten das Niederlassungsverbot im christlichen Königreich Jerusalem. Im 12. Jahrhundert wurde den wenigen Jerusalemer Juden, die in der Stadt geblieben waren, wieder Wohnrecht und beschränkte Gewerbefreiheit eingeräumt. Jedoch mussten sie hohe Steuern zahlen und durften keinen Grund- oder Immobilienbesitz erwerben. Der jüdische Reisende Benjamin bar Jona aus der nordspanischen Stadt Tudela traf im Jahre 1168 in Palästina ein und berichtete aus Jerusalem: »Es ist eine kleine, mit drei Stadtmauern stark befestigte Stadt. In ihr leben viele Menschen; die Muslime nennen sie Jakobiten, Aramäer, Griechen, Georgier und Franken. Leute aller Sprachen trifft man dort. In der Stadt gibt es eine Färberei, für die die Juden jedes Jahr von neuem beim König den Kaufpreis bezahlen müssen, damit sich in Jerusalem niemand anderes mit Färberei befasst als die Juden allein. Es sind ihrer etwa zweihundert. Die Juden wohnen um den Davidsturm in einem Winkel der Stadt.«

      Nach der Vertreibung der Kreuzfahrer durch Saladin (1175–1193) im Jahre 1187 siedelten sich unter der Förderung der muslimischen Herrscher allmählich wieder Juden in Jerusalem an. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts existierten wieder größere jüdische Gemeinden in Palästina. Zahlreiche jüdische Zuwanderer kamen aus Nordafrika und Spanien, manche sogar aus Frank­reich und England. Im Jahre 1260 fielen die Mongolen in das Land ein und verwüsteten es. Erneut flohen die überlebenden Juden aus den Trümmern Jerusalems in die umliegenden Gebiete. Im 14. Jahrhundert hatte sich die Situation abermals entspannt. Ein jüdischer Reisender berichtet im Jahre 1333 von einer »multi­ethnischen« Synagogengemeinde in Jerusalem, der viele Einwanderer, darunter Handwerker, Kleinhändler und auch einige Gelehrte, angehörten. Als der Sultan von Ägypten im Jahre 1440 der armen Gemeinde Jerusalems hohe Sondersteuern auferlegte und die alteingesessenen arabischen Juden damit beauftragte, diese Steuern einzutreiben, wälzten diese den Hauptteil der Las­ten auf die Einwanderer ab, und die Gemeinde drohte sich zu entzweien. Erst dem bedeutenden Gelehrten Obadja ben Abraham Bertinoro (ca. 1450–1516) gelang es, als Rabbiner in Jerusalem die gespaltene Gemeinde zu konsolidieren.

      Die östliche Diaspora

      Unter der Herrschaft der Parther hatten die babylonischen Juden in weitgehender Autonomie in langen Perioden des Friedens gelebt, die jedoch immer wieder von Phasen der Unterdrückung und Verfolgung unterbrochen wurden. Ebenso wie die Juden in Palästina lebten sie nach dem Vordringen der muslimischen Araber fortan als »Ahl al-Kitab« (»Volk des Buches«) und als »Dhimmis«, d. h. als tolerierte und besteuerte »Beschützte« minderen Rechts. Die Dhimmis rangierten im öffentlichen Bewusstsein sozial niedriger. Auch die Exilarchen (vgl. Kap. 1, Antike) und Oberhäupter der rabbinischen Schulen (vgl. Kap. 2, Exkurs: Der Rabbiner), als deren bedeutendste die Akademien von Sura und Pumbedita – und später die Akademie von Bagdad – galten, mussten von den muslimischen Behörden approbiert werden. Im Jahre 849 verordnete der Kalif Mutawwakil (847–861) Signalkleidung für Juden und Christen in seinem Herrschaftsbereich, durch die sie sich von der muslimischen Bevölkerungsmehrheit unterscheiden sollten (vgl. Kap. 1, Spanien und Südfrankreich).

      Die rabbinischen Schulen Babyloniens hatten nach dem Niedergang der palästinischen Akademien seit dem 4. Jahrhundert ihre Machtstellung genutzt, um ihre Lehrtraditionen durchzusetzen. Im islamischen Babylonien galt die Autorität der jüdischen Exilarchen weiter. Die jüdischen Akademien, deren Oberhaupt und höchste Lehrautorität bis ins 11. Jahrhundert der »Gaon« (»Erhabenheit«) war, erlangten bald autoritative Geltung überall in der Diaspora. Der babylonische Talmud (vgl. Kap. 2, Der babylonische Talmud) wurde zur Grundlage aller halachischen (vgl. Kap. 2, Die rabbinische Traditionsliteratur) Entwicklungen. Die babylonische Liturgie verdrängte ebenso wie die babylonische Texttradition der Bibel konkurrierende Überlieferungen. Die rabbinischen Gelehrten im frühmittelalterlichen Zweistromland genossen höchstes Ansehen in der gesamten Diaspora und verfassten immer wieder Responsen (vgl. Kap. 2, Responsen) zur Beantwortung der zahlreichen rechtlichen Anfragen aus den Diasporagemeinden.

      Ein bedeutendes Oberhaupt einer babylonischen rabbinischen Akademie war Saadja ben Josef Gaon (882–942). Das Schuloberhaupt von Sura gilt

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