Weihnachtsgeschichten, Märchen & Sagen (Über 100 Titel in einem Buch - Illustrierte Ausgabe). Оскар Уайльд

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Weihnachtsgeschichten, Märchen  & Sagen (Über 100 Titel  in einem Buch - Illustrierte Ausgabe) - Оскар Уайльд

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Nach dieser Pforte der Ewigkeit eilte sie mit verzweifelten Schritten so rasend schnell, wie seine reißenden Wasser dem Meere zuströmten. Er versuchte, sie zu berühren, als sie an ihm vorüber nach der dunklen Wasserfläche hinuntereilte, doch die wilde, kranke Gestalt, die schreckliche Liebe, die Verzweiflung, die sich durch nichts Menschliches mehr aufhalten ließ, fegte an ihm vorbei wie der Wind.

      Er folgte ihr. Sie stand einen Augenblick am Ufer still, ehe sie den schrecklichen Sprung tat. Er fiel auf die Knie und schrie zu den Gestalten in den Glocken, die nun über ihm schwebten. »Ich habe es gelernt von dem Wesen, das meinem Herzen am teuersten ist. O rettet sie, rettet sie!«

      Er konnte ihr Gewand mit den Fingern berühren. Er konnte sie halten. Als die Worte seinem Munde entflohen, fühlte er seinen Tastsinn zurückkehren und wußte, daß er sie festhielt.

      Die Gestalten blickten fortwährend auf ihn hernieder.

      »Ich habe es gelernt«, rief der alte Mann. »O habt Mitleid mit mir in dieser Stunde, wenn ich in meiner Liebe zu ihr, die so jung, so gut war, die Natur in dem Herzen verzweifelnder Mütter verleumdete! Habt Mitleid mit meiner Vermessenheit, Bosheit und Unwissenheit und rettet sie!«

      Er fühlte, daß er sie nicht mehr länger festhalten konnte. Sie schwiegen immer noch.

      »Habt Mitleid mit ihr!« rief er. »Dieses schreckliche Verbrechen ist aus mißverstandener Liebe entsprungen, aus der stärksten, innigsten Liebe, die wir gefallenen Menschen kennen. Bedenkt, wie groß ihr Elend gewesen sein muß, wenn solcher Same solche Frucht trägt. Der Himmel hat sie zum Guten bestimmt. Es gibt keine liebende Mutter auf der Erde, die nicht eben dahin gebracht werden kann, wenn ihr ein solches Leben auferlegt ist. O habt Erbarmen mit meinem Kinde, das selbst in diesem Augenblicke Erbarmen mit dem ihren hegt und selber stirbt und ihre unsterbliche Seele tötet, um es zu erlösen!«

      Sie lag in seinen Armen. Er hielt sie fest. Er hatte die Kraft eines Riesen.

      »Ich sehe den Geist der Glocken unter euch«, sagte der alte Mann, das Kind erblickend, und sprach mit einer Art von Begeisterung, die seine Blicke ihm einflößten: »Ich weiß, daß die Zeit unser Erbteil für uns verwaltet. Ich weiß, daß eines Tages ein Meer der Zeit sich erheben und alle wie Blätter fortwehen wird, die uns unrecht tun und uns unterdrücken. Ich sehe, wie es heranflutet. Ich weiß, daß wir vertrauen und hoffen müssen und keinen Zweifel an dem Guten weder in uns, noch andern hegen dürfen. Ich habe es von dem Wesen gelernt, das meinem Herzen am teuersten ist. Ich schließe es wieder in meine Arme. O ihr gnädigen und guten Geister, ich präge mir eure Lehre in die Brust, an der ich sie halte. O ihr gnädigen und guten Geister, ich werde ewig dankbar sein.«

      Er hätte noch mehr sagen mögen, wenn nicht die Glocken, die alten, lieben Glocken, seine guten, treuen, beständigen Freunde ihr Freudengeläut zum neuen Jahre so munter, so fröhlich und so schwellend begonnen hätten, daß er auf die Füße sprang und so den Zauber löste, der ihn fesselte.

      * * *

      ›Tu, was du willst‹, sagte Meg, ›Vater, aber iß nicht wieder Kaldaunen, ohne einen Doktor zu fragen, ob sie dir bekommen werden. Denn wie hast du dich angestellt, du lieber Himmel!‹

      Sie saß an dem kleinen Tisch am Feuer und nähte an ihrem einfachen Hochzeitskleid, das sie mit Bändern schmückte, so stillselig, so blühend und jugendlich, so voll schöner Verheißung, daß er laut aufschrie, als wenn ein Engel in seinem Hause wäre. Dann stand er schleunigst auf, um sie in seine Arme zu schließen. Doch er verwickelte sich mit den Füßen in die Zeitung, die vom Herd gefallen war, und jemand drängte sich zwischen sie.

      ›Nein‹, sagte die Stimme des besagten Jemand, eine wohlklingende, fröhliche Stimme, ›selbst Ihr nicht. Der erste Kuß von Meg im neuen Jahre gehört mir. Mir! Ich habe eine Stunde vor dem Hause gestanden, um die Glocken zu hören und ihn mir zu verdienen. Meg, mein liebster Schatz, ein glückliches Neujahr! und mögen wir noch recht viele glückliche Jahre verleben, meine liebe, kleine, süße Frau!‹

      Und Richard erstickte sie fast mit seinen Küssen.

      Als dies geschah, gab es keinen glücklicheren Menschen auf der ganzen Welt, als Trotty. Er setzte sich auf seinen Stuhl, schlug sich auf die Knie und weinte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug auf die Knie und lachte und weinte in einem Atem. Er stand von seinem Stuhle auf und liebkoste Meg. Er stand von seinem Stuhle auf und liebkoste Richard. Er stand von seinem Stuhle auf und liebkoste beide zu gleicher Zeit. Er lief zu Meg und nahm ihr frisches Gesicht zwischen seine Hände und küßte sie und ging rückwärts wie ein Krebs, um sie nicht einen Augenblick aus den Augen zu verlieren, und lief wieder auf sie zu, wie eine Figur in einer Zauberlaterne, und was er immer tat, so setzte er sich beständig wieder in seinen Stuhl, blieb aber nicht einen Augenblick sitzen. Genug – und das ist die Wahrheit – er war außer sich vor Freude.

      »Und morgen ist dein Hochzeitstag, mein Herzenskind?« sagte Trotty, »wirklich, dein glücklicher Hochzeitstag?«

      »Heute«, sagte Richard und schüttelte ihm die Hände, »heute. Die Glocken läuten eben das neue Jahr ein. Hört sie nur.‹« Und sie läuteten wahrhaftig.

      Gott segne die kräftigen Seelen! O, es waren große Glocken, melodische, tiefstimmige, edle Glocken, von keinem gemeinen Metall gegossen, von keinem gemeinen Gießer geformt. Wann hätten sie jemals geläutet wie heute!

      »Heute, meine Meg«, sagte Trotty, »hattest du wohl mit Richard einen kleinen Wortwechsel?«

      »Weil er ein so schlechter Mensch ist, Vater«, sagte Meg. »Bist du das nicht, Richard? Solch ein eigensinniger, ungestümer Mensch! Wollte er doch dem gewaltigen Ratsherrn seine Meinung sagen, und er genierte sich so wenig, als er sich genieren würde –«

      »Meg zu küssen«, half Richard ein und führte es sogleich aus.

      »Nein, nicht ein bißchen mehr. Doch ich wollte es nicht zugeben, Vater. Was hätte es geholfen?«

      »Richard, mein Junge«, sagte Trotty, »du bist ein Prachtkerl und wirst ein Prachtkerl bleiben bis an dein seliges Ende. Doch du weintest heute abend am Feuer, als ich nach Hause kam, meine Meg? Warum weintest du denn am Feuer?«

      »Ich dachte an die Jahre, die wir miteinander verlebt haben, Vater. Bloß deshalb. Und ich dachte, du würdest mich recht vermissen und dich einsam fühlen.«

      Trotty kehrte wieder nach dem außerordentlichen Stuhl zurück, als das Kind, das von dem Lärmen erwacht war, halb angekleidet hereinkam.

      »Ei, hier ist sie ja«, sagte Trotty und hob sie auf, »hier ist sie ja, die kleine Lilly. Ha, ha! hier sind wir und hier ist sie ja, die kleine Lilly. Ha, ha! hier sind wir und hier spazieren wir! O, hier sind wir und hier spazieren wir wieder! Und hier sind wir und hier spazieren wir und auch Onkel Will!«

      Er hielt in seinem Trab inne, um ihn herzlich zu begrüßen. »Ach, Onkel Will, was hab’ ich heute abend für Erscheinungen erlebt und nur weil ich Euch beherbergt habe. Ach, Onkel Will, wie bin ich Euch dankbar, daß Ihr zu mir gekommen seid, mein guter Freund!«

      Ehe Will Fern das Geringste antworten konnte, trat eine Musikbande in das Zimmer, von einer Menge Nachbarn begleitet, die alle: »Glückliches Neujahr, Meg! Fröhliche Hochzeit! Noch recht lange Jahre!« und andere gute Wünsche dieser Art riefen. Der Trommler, der ein besonders guter Freund Trottys war, trat hervor und sagte: »Trotty Veck, mein alter Knabe, wir haben erfahren, daß Eure Tochter heute heiratet. Nicht eine Seele, die Euch kennt und Euch nicht das beste Glück wünscht, oder die sie kennt und ihr nicht Segen gönnt, oder die euch beide

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