Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
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Eine runzelige Alte,
schleicht die Abenddämmerung,
gebtickten Ganges
durchs Gefild
und sammelt und sammelt
das letzte Licht
in ihre Schürze.
Vom Wiesenrain,
von den Hüttendächern,
von den Stämmen des Walds,
nimmt sie es fort.
Und dann
humpelt sie mühsam
den Berg hinauf
und sammelt und sammelt
die letzte Sonne
in ihre Schürze.
Droben umschlingt ihr
mit Halsen und Küssen
ihr Töchterchen Nacht
den Nacken
und greift begierig
ins ängstlich verschlossene
Schurztuch.
Als es sein Händchen
wieder herauszieht,
ist es schneeweiss,
als war es mit Mehl
rings überpudert.
Und die Kleine,
längst gewitzt,
tupft mit dem
niedlichen Zeigefinger
den ganzen Himmel voll
und jauchzt laut auf
in kindlicher Freude.
Ganz unten aber
macht sie einen grossen,
runden Tupfen –
das ist der Mond.
Mütterchen Dämmerung
sieht ihr mit mildem
Lächeln zu.
Und dann geht es
langsam
zu Bette.
AUGUSTNACHT
Stille, herrliche Sommernacht!
Silberfischlein springen lustig
in dem himmlischen Meer.
Hochauf schnellen
die zierlichen Leibchen sich,
blitzschnell.
wieder verschwindend.
Hinter grauen Wolkenklippen
gleisst es verdächtig.
Da kauert arglistig
der Mann im Mond –
und fischt.
Verstohlene, seidene
Angelschnüre
wirft er hinab
in die arglose Flut.
Ach! und nun
zappelt auch schon
ein armer Weissling
am Haken
und fliegt
im weiten Bogen
hinauf zu den grauen,
hässlichen Klippen ...
mir ist,
ich höre ein leises,
behäbiges Lachen.
MÄDCHENTRÄNEN
Die schönen, blauen Augen des Himmels
hängen voll trüber Nebelschleier,
und unter verstohlenen Schluchzern
strömen graue Güsse zur Erde nieder.
Auf traurigen Häuptern tragen die Bäume
das schwere Tränenweh, die Bäche
hetzen verstört sich talwärts, mürrisch
vermummt sich der Berg in weisser Wolle.
Und das alles?
Weil mit allzuglühender Lippe
der liebesrasende, ungestüme Sonnengott
des Morgenhimmels reine, kühle Mädchenunschuld
bestürmt und die tief errötende Geliebte
mit allzuversengenden Küssen
in ihrer jungfraustillen Seele
fassungslos aufgewühlt.
Wie ein Krampf packte die Leidenschaft
den überwältigten Herzensfrieden ...
Und all die verwirrten Gefühle
lösten und schütteten sich aus
in einem grossen Weinen.
Mählig verebben die Seufzer.
Versöhnlicher, weicher wird das Herz.
Und schon sehe ich wieder ein halbes Lächeln,
ein warmes Winken
undämmbar aufdrängender Liebe
in den schönen, blauen Augen.