Orbáns Ungarn. Paul Lendvai
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Wenn man die nicht zu unterschätzende Rolle des persönlichen Elements bei wichtigen politischen Entscheidungen in angemessener Weise berücksichtigen will, dann muss der Chronist der Zeitgeschichte auch die Worte des Basler Historikers Herbert Lüthy in Erinnerung rufen: »Zeitgeschichte ist nicht anonym. Sie ist uns als wirkliches Geschehen bekannt nur in dem Maß, in dem wir die handelnden Personen ihrer Anonymität entreißen, individualisieren und identifizieren … Daten und Fakten bedeuten wirklich nichts, wenn wir uns überhaupt kein Bild vom Bewusstsein der handelnden Menschen machen können.«1 Im Zeitalter der globalen Kommunikationsrevolution und der Verbreitung der sozialen Medien sind diese Überlegungen noch wichtiger geworden.
Was wäre gewesen, wenn …
Gerade die turbulente Geschichte der mittel- und osteuropäischen Staaten und die verblüffenden Wendungen in den Positionen der Männer an der Spitze von Regierung und Staat bestätigen immer wieder die Richtigkeit der Warnung Isaiah Berlins, des aus Riga stammenden großen britischen Denkers, die er 1988, also noch vor der großen Wende, geäußert hat, dass nämlich die Geschichte nicht als »eine Autobahn ohne Abfahrten« anzusehen sei: »Ich glaube nicht an den Determinismus in der Geschichte … In entscheidenden Augenblicken, an Wendepunkten … kann der Zufall, können Individuen mit ihren Entscheidungen und Handlungen, die ihrerseits nicht unbedingt vorhersagbar sind, die sogar selten vorhersagbar sind, den Lauf der Geschichte bestimmen. Unser Entscheidungsspielraum ist nicht groß. Sagen wir: ein Prozent. Aber auf dieses eine Prozent kommt es an.«2
Im Gespräch mit dem iranischen Philosophen Ramin Jahanbegloo konkretisierte Isaiah Berlin am Beispiel Churchills im Jahre 1940 und Lenins im April 1917 das »Was wäre gewesen, wenn …«, zum Beispiel, wenn Churchill nicht Premierminister geworden oder Lenin früher gestorben wäre. Diese Gedankengänge könnte man natürlich fortsetzen. Was wäre gewesen, wenn am 10. März 1985 nicht Michail Gorbatschow, sondern einer seiner rückwärtsgewandten Rivalen zum Generalsekretär der KPdSU gewählt worden wäre? Oder wenn 1947/48 an der Spitze des kommunistischen Jugoslawiens nicht ein Josip Broz Tito mit seiner Erfahrung und Autorität gestanden hätte, der vor aller Welt ablehnte, ein Befehlsempfänger Stalins zu sein? Auch die Wandlung János Kádárs, nach der blutigen Niederschlagung des Ungarnaufstandes im November 1956 als unbarmherziger »Gauleiter Moskaus« weltweit verachtet und zum Symbol des »Gulaschkommunismus mit kleinen Freiheiten« geworden, zeigt die Bedeutung der Persönlichkeit.
In seinem Essay über die »Helden des Rückzugs« hat Hans Magnus Enzensberger 1989 ironisch und geistreich die Leistungen Kádárs, auch Gorbatschows und des polnischen Staatschefs General Wojciech Jaruzelski, als »Abbruchunternehmer« bei der Demontage des eigenen Systems beschrieben. Für diese und viele andere Persönlichkeiten gilt aber auch der Spruch Hegels, dass, wenn der historische Moment vorbei sei, wenn der Held erledigt habe, was zu vollbringen gewesen sei, ihn die Geschichte wegwerfe »wie leere Hülsen«. Das geschah letztendlich auch mit so gegensätzlichen Führungsfiguren wie Bundeskanzler Adenauer, dem Gründungsvater der Bundesrepublik, und Willy Brandt, dem Architekten der deutschen Ostpolitik, und auch – noch auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges – mit dem greisen Parteichef János Kádár, der nach allerlei Schwächeanfällen und Pannen mit Zustimmung Gorbatschows gestürzt wurde. Der Lebenslauf mancher Spitzenpolitiker zeigt das, was Jacob Burckhardt in seinen berühmten »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« eine »relative Größe« nannte, bestätigt aber auch, dass sich das Gerede von der Unersetzlichkeit von politischen Persönlichkeiten schnell als hohle Phrase entpuppen kann.
Vom »Henker« zum »guten König«
Manchmal werden nicht nur die scheinbar unentbehrlichen Führungspersönlichkeiten aus dem Amt gedrängt, sondern auch die Regierungspartei, die von diesen Politikern geführt wurde, wird von der Geschichte als eine leere Hülse auf den Misthaufen geworfen. Das ist das Schicksal der drei wichtigsten politischen Gruppierungen, die im viel gerühmten annus mirabilis 1989 in Ungarn, im Land des größten Volksaufstandes im Europa der Nachkriegszeit, die Weichen für die Wende gestellt und dann in verschiedenen Konstellationen (mit Ausnahme von vier Jahren, 1998–2002, unter einer Fidesz-Regierung) Politik und Wirtschaft entscheidend mitgeprägt hatten. Im Gegensatz zu den anderen Ostblockländern verband sich der Systemwechsel weder mit einem politischen Umsturz noch mit einer dramatischen revolutionären Entwicklung. Es gab damals für die Menschen – im Kontrast zu den wenigen Tagen des scheinbar siegreichen Aufstandes im Herbst 1956 – kein Gefühl einer moralischen Erneuerung, keinen gewaltigen Drang nach Abrechnung mit den Würdenträgern des alten Regimes. Kein einziger kommunistischer Spitzenfunktionär oder Chef der diversen Geheimdienste wurde rechtskräftig verurteilt.
Im Gegensatz zu den gewaltsamen Zusammenstößen und Massenprotesten im sowjetischen Kolonialreich war das Verhältnis zwischen der Macht und der Opposition in Ungarn auf beiden Seiten durch Selbstbeschränkung und Verständigungsbereitschaft gekennzeichnet. Vor dem Hintergrund der unauslöschlichen Erinnerung an die Oktober-Tragödie und an die durch die Sowjetpanzer zermalmten Hoffnungen der 1956er-Revolution stellte man das Machtmonopol der Staatspartei nicht infrage. Auf allen Seiten strebte man bis zuletzt eine graduelle Reform und später einen geordneten Machtwechsel an. Die heutigen rechtsradikalen, aber auch linken Kritiker des sanften Überganges zur parlamentarischen Demokratie vergessen die Tatsache, dass sich damals rund 70.000 sowjetische Soldaten mit fast 1000 Panzern, 1500 gepanzerten Militärfahrzeugen, 622 Artilleriegeschützen und 196 Raketen-Batterien »provisorisch« (bis zur Auflösung des Warschauer Paktes 1991) in Ungarn aufhielten und dass die Partei neben dem immensen, intakten Apparat des Geheimdienstes auch die bewaffneten Einheiten der sogenannten Arbeiterschutztruppen kontrollierte.
Bei der Betrachtung des langen und verschlungenen Weges János Kádárs (1912–1989) vom Henker und Kerkermeister zum »Landesvater« und »guten König« während der 32 Jahre des mit seinem Namen untrennbar verbundenen Regimes muss man rückblickend die ungeheure politische Bedeutung seiner Persönlichkeit hervorheben, und das ungeachtet seiner inzwischen überzeugend dokumentierten üblen Rolle hinter den Kulissen bei der Hinrichtung seiner einstigen Kampfgefährten László Rajk (1949) und Imre Nagy (1958). Dieser Schreibmaschinentechniker und lebenslange Berufsfunktionär unterschied sich bei seinen Auftritten stets von anderen kommunistischen Spitzenpolitikern. Dank der Interventionen Bruno Kreiskys, zuerst als Außenminister und später als Bundeskanzler der Republik Österreich, konnte ich das 1964 und 1981 persönlich erleben.
Durch seinen fast puritanischen Lebensstil, seine persönliche Bescheidenheit und seinen Sinn für Humor vermochte Kádár, trotz der blutigen Abrechnung mit den Freiheitskämpfern und Oppositionellen, in den Siebziger- und Achtzigerjahren die wohlwollende Duldung des Regimes seitens breiter Bevölkerungsschichten zu gewinnen. Der hoch angesehene Nationaldichter Gyula Illyés sagte in einem Fernseh-Gespräch mit mir im Frühjahr 1982, Kádár sei es gelungen, durch »Sachlichkeit, Bescheidenheit und Leistungen« das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Im Gegensatz zu allen anderen Ostblockführern duldete Kádár keinen Kult um seine Person. In den Amtsstuben hingen nie Bilder von ihm und auch bei festlichen Umzügen wurden solche nicht als eine Art von Monstranz getragen. Er sei »ein Diktator ohne persönliche diktatorische Neigungen« gewesen, formulierte treffend ein ungarischer Politologe.
Trotz der historischen Verantwortung,