Orbáns Ungarn. Paul Lendvai
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Unbestrittene statistische Daten beweisen, dass sich zwischen 1956 und 1989 die Realeinkommen verdreifacht haben. Diese nachträgliche Verklärung des Kádár-Regimes ist also auch die Folge jener raffinierten Taktik von Zuckerbrot und Peitsche, die verhältnismäßig schnell relativ viele Früchte trug. Zum Teil mag sie freilich auch eine Reaktion auf die gewaltigen neuen Probleme nach der Wende gewesen sein.
Jedenfalls konnte ich als Auslandskorrespondent und später als Leiter der Osteuropa-Redaktion des ORF sozusagen in einer doppelten Position als Berichterstatter und zugleich dank meiner Orts- und Sprachkenntnisse als gebürtiger Ungar in der Rolle des Eingeweihten den Prozess des Systemwechsels der Halbheiten beobachten. Bis zu seiner Entmachtung im Mai 1988 galt Kádár als unverzichtbar für einen friedlichen Wechsel und zugleich als Verkörperung der Überlebenskraft eines vom Kreml eingesetzten »starken Mannes«, der drei Jahrzehnte hindurch mit unnachahmlichem taktischen Geschick, subtil, zynisch und wenn nötig auch brutal potenzielle Rivalen kaltgestellt und zwischen dem Druck von Moskau und der tief verwurzelten Angst vor dem Volk laviert hatte. Die Ambivalenz in der Beurteilung des vergangenen kommunistischen Regimes im Dienst einer fremden Diktatur und auch des autoritären Horthy-Regimes als letztem Verbündeten des Dritten Reichs, mitverantwortlich für den Tod von 560.000 ungarischen Juden, liefert bis heute den Schlüssel zum Verständnis der in Ungarn so ausgeprägten Tendenz, Zuflucht in der Vergangenheit zu suchen.
Ein Begräbnis mit Symbolkraft
Die Abrechnung mit den drei grundlegenden Tabus – das Einparteiensystem, die Fremdherrschaft und die Abstempelung des 1956er-Aufstandes als Konterrevolution – erfolgte am 16. Juni 1989 noch vor der formellen Abdankung der Staatspartei und vor dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen vor 250.000 Menschen auf dem Budapester Heldenplatz. Die Begräbnisinszenierung war monumental. Dieser Platz des kollektiven nationalen Gedächtnisses wirkt allein wegen seiner Lage sehr beeindruckend. Vor dem Stadtwäldchen und am Ende der fast drei Kilometer langen, breitesten Straße in Budapest steht in der Mitte des Platzes die anlässlich der Feierlichkeiten zum tausendjährigen Jubiläum der Landnahme der Magyaren errichtete, 36 Meter hohe Säule, die eine rund fünf Meter große Figur des Erzengels Gabriel trägt. Dieser hält in der einen Hand die ungarische Krone, in der anderen das apostolische Doppelkreuz. Das eigentliche Heldendenkmal und die halbkreisförmige Säulenreihe der beiden Kolonnenbögen mit Standbildern zur Erinnerung an 14 Könige und Helden der ungarischen Geschichte beherrschen das Bild. Die zwei ebenfalls vor der Jahrhundertwende im klassizistischen Stil entworfenen Bauten der Gründerzeit, rechts die Kunsthalle und links das Museum der bildenden Künste, schließen die architektonische Einheit des Heldenplatzes ab.
Vor den sechs mit schwarzen Fahnen drapierten korinthischen Säulen ragte der samtschwarze Katafalk empor. Obenauf lagen auf den Treppen die fünf Särge der 31 Jahre zuvor bei einem Geheimprozess zum Tode verurteilten und sofort hingerichteten Märtyrer: des Ministerpräsidenten Imre Nagy und seiner vier Schicksalsgefährten. Der sechste, leere Sarg symbolisierte die 300 ermordeten Freiheitskämpfer des Volksaufstandes von Oktober/November 1956. Es lag ein Gefühl der Trauer, aber auch eine bedrohliche Entschlossenheit, die gewonnenen Freiheiten nie aus der Hand zu geben, über der unvergesslichen Szene. Die gesamte Kundgebung wurde vom ungarischen Fernsehen live übertragen, ebenso die darauf folgende Beisetzung Imre Nagys und seiner Kameraden in der Parzelle 301 auf dem gleichen Friedhof, auf dem sie zuvor in unbezeichneten Massengräbern verscharrt gewesen waren. Als eine Kompromisslösung wurde die Tatsache betrachtet, dass nicht nur die Familienmitglieder und Freunde der Märtyrer und die Vertreter der demokratischen Opposition, sondern auch rechtzeitig gewendete Funktionäre der Staatspartei bei den Särgen die Ehrenwache halten durften. Der ORF übertrug – wie viele andere Sender – die bewegenden Bilder. Ich berichtete nicht vor der Kamera aus Budapest, sondern kommentierte aus dem »off«, also nicht im Bild, im Wiener Studio, von Zeit zu Zeit mit fast versagender, vor Aufregung stockender Stimme, und schämte mich nicht, als mir während der Gedenkrede meines Freundes Miklós Vásárhelyi, der als Imre Nagys Pressechef auch mich 1953 aus dem Internierungslager geholt hatte, Tränen über die Wangen liefen.
Auf dem Heldenplatz haben sechs Menschen, Opfer und Gegner der kommunistischen Diktatur, geredet. Die politische Sensation des Tages für die Medien und auch für mich war jedoch die Rede eines völlig unbekannten jungen, bärtigen Mannes. Er hieß Viktor Orbán, damals 26 Jahre alt. Im Namen der jungen Generation hielt er als Letzter eine damals außerordentlich scharf klingende und zugleich knapp und verständlich formulierte Rede, mit der Forderung nach Demokratie und Unabhängigkeit:
»Wenn wir unseren eigenen Kräften vertrauen, sind wir in der Lage, der kommunistischen Diktatur ein Ende zu bereiten. Wenn wir entschlossen genug sind, können wir die herrschende Partei dazu zwingen, sich freien Wahlen zu stellen. Wenn wir die Idee von 56 nicht aus den Augen verlieren, werden wir eine Regierung wählen, die sofort Verhandlungen über den unverzüglichen Beginn des Abzugs der russischen Truppen aufnimmt. Wenn wir mutig genug sind, all das zu wollen, dann, aber nur dann, können wir den Willen unserer Revolution erfüllen.«
Auch rückblickend und unabhängig von seinen späteren politischen Aktionen und trotz seiner Anbiederung an den russischen Staatschef Wladimir Putin muss man den bahnbrechenden Charakter seiner mutigen und den protokollarischen Rahmen sprengenden, politisch aufsässigen Worte anerkennen. Nach diesem sechseinhalb Minuten dauernden Auftritt wurde der junge Mann in Ungarn und sogar im Ausland schlagartig berühmt. In den Worten seines späteren Biografen und heute schärfsten Kritikers József Debreczeni war das die »Begegnung eines außerordentlichen Glücks mit einem außerordentlichen Talent«.
Kapitel 2
DER AUFSTEIGER VON GANZ UNTEN
Wer hätte damals gedacht, dass der junge, bärtige Revoluzzer nur neun Jahre später (inzwischen ohne Bart), 35-jährig als der jüngste Ministerpräsident in der ungarischen Geschichte nach dem sensationellen Sieg der von ihm geführten einstigen Jugendpartei Fidesz wie ein »Meteor am politischen Himmel der ungarischen Politik« (so sein Biograf) erscheinen würde? Noch weniger Beobachter hätten allerdings nach seinen zwei darauffolgenden Wahlniederlagen (2002 und 2006) geglaubt, dass es dem von unbändigem Machtwillen getriebenen Jungpolitiker mit einer außergewöhnlichen persönlichen Leistung und mit hoher taktischer Begabung gelingen könnte, in drei epochalen Wahltriumphen, 2010, 2014 und 2018, die Zweidrittelmehrheit der Parlamentssitze zu erringen. Danach hat Orbán mit dem klaren gesellschaftlichen Führungsauftrag alle Herrschaftspositionen im Staat ohne Rücksicht auf rechtsstaatliche Prinzipien und den Wertekanon der Europäischen Union mit seinen Anhängern besetzt. Seit dem Sieg im Frühjahr 2010 nimmt er die Führungsrolle offensiv an und ist nicht bereit, Entscheidungen an andere zu delegieren. Der unabhängige und angesehene Spitzenjurist Universitätsprofessor Tamás Sárközy spricht in seinen grundlegenden Analysen der Methoden und Praktiken des Orbán-Regimes – in Anspielung auf die Landnahme der Magyaren um 896 im Donauraum – sogar von einer »neuen Landnahme« durch ein Freikorps von Plebejern, die sich im Interesse ihrer Mission bereichern und eine neue Ordnung, mit einer neuen Elite und einer neuen Mittelklasse, schaffen wollen.3
Sárközy weist auf ein einzigartiges und in den westlichen Medien völlig übersehenes Phänomen in Ungarn hin: Es dürfte in der Welt (abgesehen von Familienclans oder Diktaturen in Afrika und Lateinamerika) kein demokratisches Land geben, in dem die Angehörigen eines ganz kleinen, seit fast 30 Jahren bestehenden Freundeskreises aus zehn bis zwanzig einstigen Studenten in solchem Ausmaß so viele staatsrechtliche Positionen besetzen. So werden die Ämter der höchsten Würdenträger – des Staatspräsidenten,