Abessinien, das Alpenland unter den Tropen und seine Grenzländer. Andree Richard
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Der Blaue Nil und der Atbara, die fast den ganzen Wasserabfluß Abessiniens aufnehmen, ergießen ihre Hochwasser in der Mitte des Juni gleichzeitig in den Hauptnil. In dieser Zeit hat auch der Weiße Nil einen beträchtlich hohen, obwol nicht seinen höchsten Stand, und der plötzliche Wassersturz, der von Abessinien in den Hauptkanal herabkommt, welcher schon durch den Weißen Nil auf einen bedeutenden Stand gebracht worden ist, verursacht die jährliche Ueberschwemmung in Unterägypten.
Als Haupt- und Charakterstrom Abessiniens kann der Takazzié gelten, wenngleich er nur ein Nebenfluß des Atbara ist. Er entspringt östlich vom Tanasee zwischen Begemeder und Lasta aus drei kleinen Quellen, die bei den Eingeborenen Aïn (das Auge des) Takazzié heißen. Diese ergießen sich in einen Behälter, aus welchem das Wasser zuerst in einem vereinigten Bache herausfließt. Der Strom, die große Scheide zwischen den Landen Amhara in seinem Westen und Tigrié in seinem Osten, geht erst in nördlicher Richtung weiter und rauscht dann in schäumenden Kaskaden an den Alpen Semién’s am Awirr hin, durch welche er sich sein mit steilen Wänden eingefaßtes Bett wühlt. Hier, in diesem tiefen, nur 3000 Fuß über dem Meere liegenden Thale, neben dem sich die Berge bis in die Eisregion erheben, herrscht eine heiße ungesunde Luft und wohnen wenig Menschen. Selbst die Thiere meiden diesen Aufenthalt, und nur die unförmigen Köpfe der Nilpferde erscheinen über dem Spiegel des in Stromschnellen über Kiesgrund dahinschießenden Flusses. Von Semién an nimmt der Takazzié eine westliche Richtung an und tritt durch das heiße Land Wolkait auf ägyptisches Gebiet über, wo er den Rojan auf- und den Namen Setit annimmt. [pg 50]Durch das Land der Homranaraber und eine überaus wildreiche Gegend, das Paradies der Jagdfreunde, wälzt er endlich seine Wasser, die nie ganz austrocknen, dem Atbara zu. Als ein weiterer Zufluß desselben kann der in Hamasién entspringende, die Provinz Serawié in einem Bogen umfließende Mareb betrachtet werden, welcher durch das Land der wilden Kunama zieht, in der ägyptischen Provinz Taka den Namen Chor el Gasch erhält und jenseit Kassala entweder versandet oder bei Hochwasser den Atbara erreicht.
Die Wasser der nördlichen Grenzländer Abessiniens endlich sammelt der Barka, die er bei Tokar südlich von Sauakin dem Rothen Meere zuführt. Aber alle diese Flüsse, so große Gaben sie sonst für das Land sind, verlieren dadurch bedeutend an Werth, daß sie nicht als Kommunikationsmittel dienen können. Es fehlen die Ströme, die sich schiffbar in das Rothe Meer ergießen; es fehlen auch, um diesen Mangel zu ersetzen, die allmälig nach Osten sinkenden Ebenen, die, gegen die Küste auslaufend, den Kameeltransport ermöglichen. Mehr noch als das: die Flüsse verhindern sogar in der Regenzeit allen Verkehr, denn Brücken baut der Abessinier nicht und die alten, von den Portugiesen hergestellten zerfallen.
Schoa schließlich, der südliche Theil Abessiniens, sendet seine nach Westen gehenden Ströme dem Abai zu, im Osten zieht sich dagegen der aus Guragué kommende Hawasch um das Land, allein er erreicht das Rothe Meer nicht und versandet in den Salzebenen und Lagunen der Danakilküste.
Klimatische Verhältnisse. Unter den Tropen gelegen, von der Meeresküste bis zu 15,000 Fuß Höhe an die Grenze der Eisregion hinaufragend, die südliche Hitze und nordische Kälte vereinigend, bietet Abessinien auf seinem verhältnißmäßig beschränkten Raume alle Erscheinungen der ostafrikanischen Pflanzenwelt von der Flora der Wüste bis zu jener der Hochlande in seltener Fülle und unendlichem Reichthum dar. Aus dieser so verschiedenen Höhenlage ergiebt sich auch ein bedeutender Wechsel des Klimas, und in der That kann man an einigen Orten binnen wenigen Stunden aus der Region der Palmen bis auf die eisigen Hochebenen gelangen, wo die Vegetation ein Ende nimmt. Schließt man die heißen Küstenstriche, die tiefgelegenen Niederungen und die nicht minder tief in das Land eingerissenen Thäler, wie jenes des Takazzié, aus, so kann das Hochland als ein klimatisch sehr begünstigtes bezeichnet werden. Nach Rüppell sind die täglichen Abwechselungen in der Lufttemperatur von wenig Belang; starke Stürme sind eine große Seltenheit; die Feuchtigkeit der Regenzeit hat gar keinen nachtheiligen Einfluß auf die Gesundheit, ja während dieser Zeit ist sogar am Vormittag fast stets der Himmel heiter und nur zwischen zwei bis sechs Uhr bricht ein starkes Gewitter aus, welchem gewöhnlich eine bewölkte Nacht folgt. Die Witterung der Sommerzeit, d. h. der Monate November bis Juni, ist im westlichen Abessinien die angenehmste, die man sich denken kann, [pg 51]da in der Regel alle acht Tage ein leichter Regenschauer fällt und die Wärme der sonst heiteren Luft wegen der relativen Höhe des Landes nichts weniger als drückend ist. Welchen Gegensatz bietet dieses Klima zu demjenigen des größeren Theils von Afrika, das so viele Opfer fordert!
In dem uns zu Gebote stehenden Manuskripte Zander’s finden sich über den Wechsel der Temperatur in Abessinien von den höchsten Berggipfeln bis zu den tiefsten Thälern des Landes herab, also zwischen 14,000 und 3000 Fuß, folgende mittlere Werthe in Graden nach Réaumur angeführt. Zwischen 14,000 und 13,000 Fuß: früh und Abends im Sommer + 1 bis 3°; in den Wintermonaten zu derselben Zeit − 3 bis − 6°; des Mittags + 3 bis 4°.
Zwischen 13,000 und 12,000 Fuß: früh und Nachts 0° in den Wintermonaten; im November, Dezember, Januar, Februar − 1 bis 3°; Mittags + 5 bis 7°.
Zwischen 12,000 und 10,000 Fuß: Morgens und Nachts + 5 bis 7°; Mittags 10 bis 12°.
Zwischen 10,000 und 8000 Fuß: Morgens und Abends + 7 bis 9°; Mittags 12 bis 15°.
Zwischen 8000 und 6000 Fuß: früh und Abends + 14 bis 18°; Mittags 20 bis 23°.
Zwischen 5000 und 3000 Fuß: früh und Abends + 24 bis 28°; Mittags 30 bis 32°.
Nach v. Heuglin unterscheidet der Abessinier in seinem in klimatischer Beziehung so viele Abwechselung darbietenden Vaterlande zwei Hauptregionen oder Vegetationsgürtel, die Kola oder Kwola und die Deka, nebst einem vermittelnden Gliede für beide, Woina-Deka genannt. Hiernach läßt sich, wenn auch begreiflicherweise diese Regionen ineinander übergehen, die Flora des Landes in drei Abtheilungen zerlegen.
Die Kola. Kola heißt das Tiefland unter 5500 Fuß. Seine Vegetation zeichnet sich nach dem genannten Forscher dadurch aus, daß sie im Allgemeinen zur heißen Jahreszeit abfallendes Laub hat. Zu dieser Region gehören die Provinzen Wochni, Saragao, Ermetschoho, Walkait, Kola-Wogara, das Takazzié-, Mareb-, Hawasch-, Dschida- und Beschlothal. „Im September und Oktober herrschen in diesen Flußthälern äußerst gefährliche, meist todbringende Fieber. Zu dieser Zeit sind die Lüfte verpestet, theils durch die äußerst üppige Vegetation, welche dann abstirbt und abfault, theils durch die stagnirenden Gewässer, die nach der Regenzeit in Lachen und unzähligen Vertiefungen ohne Abfluß verdunsten müssen und in denen sich oft ungeheure Massen von zusammengeflutetem Laub, Gras und Reisig in hohen Schichten finden. Viele hundert Abessinier erliegen jährlich dieser Krankheit, die auch zugleich ansteckend ist, und oft ereignet es sich, daß der Getreidewächter, welcher dort unten krank wurde, sich in sein hoch und gesund gelegenes Heimatsdorf zurückbegiebt, wo er das Fieber den Bewohnern mittheilt, das sich nun von da über die nächsten Ortschaften weiter verbreitet. So kommt es denn manchmal vor, daß ganze Dörfer rein aussterben. [pg 52]Die beste Zeit in diesen tiefen Ländern fällt in die Monate Dezember, Januar, Februar; aber auch dann ist es dort nicht immer geheuer.“ (Zander’s Manuskript.)
Gern meidet der Europäer diese fieberschwangern Thäler und Niederungen, oder er eilt, wenn er sie auf seiner Reise unumgänglich berühren muß, wie z. B. das Takazziéthal, schnell hindurch, und nur wenige Forscher sind in die Kola eingedrungen, um dort längere Zeit zu weilen; so Munzinger in jene am Mareb, Rüppell in die von Eremetschoho. Letzterer brach von Gondar aus am 27. Dezember 1832 nach Norden hin auf und gelangte in einer Höhe von 8200 Fuß auf die Wasserscheide, welche die nach dem Tanasee und nach dem Atbara fließenden Gewässer trennt. Hier breitete sich vor seinen Blicken nach Nord und Nordost zu ein weites Amphitheater aus, gebildet durch wild zerrissene Berge, isolirte vulkanische Kegel und schroff aufgethürmte pyramidalische Felsmassen. Die ganze nach Norden zu gelegene Gegend erniedrigt sich allmälig und wird von mehreren