Hamburgische Dramaturgie. Gotthold Ephraim Lessing

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Hamburgische Dramaturgie - Gotthold Ephraim Lessing

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sicherlich hundert gegen fuenfe, die gleichfalls keine enthalten. Was hatte denn Hill also Besonders? Haette er aber auch wirklich das Besondere gehabt, das ihm Voltaire leihet: so waere doch drittens das nicht wahr, dass sein Beispiel von dem Einflusse gewesen, von dem es Voltaire sein laesst. Noch bis diese Stunde erscheinen in England ebensoviel, wo nicht noch mehr Trauerspiele, deren Akte sich mit gereimten Zellen enden, als die es nicht tun. Hill selbst hat in keinem einzigen Stuecke, deren er doch verschiedene, noch nach der Uebersetzung der "Zaire", gemacht, sich der alten Mode gaenzlich entaeussert. Und was ist es denn nun, ob wir zuletzt Reime hoeren oder keine? Wenn sie da sind, koennen sie vielleicht dem Orchester noch nutzen; als Zeichen naemlich, nach den Instrumenten zu greifen, welches Zeichen auf diese Art weit schicklicher aus dem Stuecke selbst abgenommen wuerde, als dass es die Pfeife oder der Schluessel gibt.

      ——Fussnote

      [1] From English Plays, Zara's French author fir'd,

       Confess'd his Muse, beyond herself, inspir'd,

       From rack'd Othello's rage, he rais'd his style

       And snatch'd the brand, that lights this tragic pile.

      [2] Le plus sage de vos ecrivains, setzt Voltaire hinzu. Wie waere das wohl recht zu uebersetzen? Sage heisst: weise; aber der weiseste unter den englischen Schriftstellern, wer wuerde den Addison dafuer erkennen? Ich besinne mich, dass die Franzosen auch ein Maedchen sage nennen, dem man keinen Fehltritt, so keinen von den groben Fehltritten, vorzuwerfen hat. Dieser Sinn duerfte vielleicht hier passen. Und nach diesem koennte man ja wohl geradezu uebersetzen: "Addison, derjenige von euern Schriftstellern, der uns harmlosen, nuechternen Franzosen am naechsten koemmt."

      ——Fussnote

      Sechzehntes Stueck

       Den 23. Junius 1767

      Die englischen Schauspieler waren zu Hills Zeiten ein wenig sehr unnatuerlich; besonders war ihr tragisches Spiel aeusserst wild und uebertrieben; wo sie heftige Leidenschaften auszudruecken hatten, schrien und gebaerdeten sie sich als Besessene; und das uebrige toenten sie in einer steifen, strotzenden Feierlichkeit daher, die in jeder Silbe den Komoedianten verriet. Als er daher seine Uebersetzung der "Zaire" auffuehren zu lassen bedacht war, vertraute er die Rolle der Zaire einem jungen Frauenzimmer, das noch nie in der Tragoedie gespielt hatte. Er urteilte so: dieses junge Frauenzimmer hat Gefuehl und Stimme und Figur und Anstand; sie hat den falschen Ton des Theaters noch nicht angenommen; sie braucht keine Fehler erst zu verlernen; wenn sie sich nur ein paar Stunden ueberreden kann, das wirklich zu sein, was sie vorstellet, so darf sie nur reden, wie ihr der Mund gewachsen, und alles wird gut gehen. Es ging auch; und die Theaterpedanten, welche gegen Hillen behaupteten, dass nur eine sehr geuebte, sehr erfahrene Person einer solchen Rolle Genuege leisten koenne, wurden beschaemt. Diese junge Aktrice war die Frau des Komoedianten Theophilus Cibber, und der erste Versuch in ihrem achtzehnten Jahre ward ein Meisterstueck. Es ist merkwuerdig, dass auch die franzoesische Schauspielerin, welche die Zaire zuerst spielte, eine Anfaengerin war. Die junge reizende Mademoiselle Gaussin ward auf einmal dadurch beruehmt, und selbst Voltaire ward so entzueckt ueber sie, dass er sein Alter recht klaeglich bedauerte.

      Die Rolle des Orosman hatte ein Anverwandter des Hill uebernommen, der kein Komoediant von Profession, sondern ein Mann von Stande war. Er spielte aus Liebhaberei und machte sich nicht das geringste Bedenken, oeffentlich aufzutreten, um ein Talent zu zeigen, das so schaetzbar als irgendein anders ist. In England sind dergleichen Exempel von angesehenen Leuten, die zu ihrem blossen Vergnuegen einmal mitspielen, nicht selten. "Alles was uns dabei befremden sollte", sagt der Hr. von Voltaire "ist dieses, dass es uns befremdet. Wir sollten ueberlegen, dass alle Dinge in der Welt von der Gewohnheit und Meinung abhangen. Der franzoesische Hof hat ehedem auf dem Theater mit den Opernspielern getanzt; und man hat weiter nichts Besonders dabei gefunden, als dass diese Art von Lustbarkeit aus der Mode gekommen. Was ist zwischen den beiden Kuensten fuer ein Unterschied, als dass die eine ueber die andere ebensoweit erhaben ist, als es Talente, welche vorzuegliche Seelenkraefte erfodern, ueber bloss koerperliche Fertigkeiten sind?"

      Ins Italienische hat der Graf Gozzi die "Zaire" uebersetzt; sehr genau und sehr zierlich; sie stehet in dem dritten Teile seiner Werke. In welcher Sprache koennen zaertliche Klagen ruehrender klingen, als in dieser? Mit der einzigen Freiheit, die sich Gozzi gegen das Ende des Stuecks genommen, wird man schwerlich zufrieden sein. Nachdem sich Orosman erstochen, laesst ihn Voltaire nur noch ein paar Worte sagen, uns ueber das Schicksal des Nerestan zu beruhigen. Aber was tut Gozzi? Der Italiener fand es ohne Zweifel zu kalt, einen Tuerken so gelassen wegsterben zu lassen. Er legt also dem Orosman noch eine Tirade in den Mund, voller Ausrufungen, voller Winseln und Verzweiflung. Ich will sie der Seltenheit halber unter den Text setzen.[1]

      Es ist doch sonderbar, wie weit sich hier der deutsche Geschmack von dem welschen entfernet! Dem Welschen ist Voltaire zu kurz; uns Deutschen ist er zu lang. Kaum hat Orosman gesagt "verehret und gerochen"; kaum hat er sich den toedlichen Stoss beigebracht, so lassen wir den Vorhang niederfallen. Ist es denn aber auch wahr, dass der deutsche Geschmack dieses so haben will? Wir machen dergleichen Verkuerzung mit mehrern Stuecken: aber warum machen wir sie? Wollen wir denn im Ernst, dass sich ein Trauerspiel wie ein Epigramm schliessen soll? Immer mit der Spitze des Dolchs, oder mit dem letzten Seufzer des Helden? Woher koemmt uns gelassenen, ernsten Deutschen die flatternde Ungeduld, sobald die Exekution vorbei, durchaus nun weiter nichts hoeren zu wollen, wenn es auch noch so wenige, zur voelligen Rundung des Stuecks noch so unentbehrliche Worte waeren? Doch ich forsche vergebens nach der Ursache einer Sache, die nicht ist. Wir haetten kalt Blut genug, den Dichter bis ans Ende zu hoeren, wenn es uns der Schauspieler nur zutrauen wollte. Wir wuerden recht gern die letzten Befehle des grossmuetigen Sultans vernehmen; recht gern die Bewunderung und das Mitleid des Nerestan noch teilen: aber wir sollen nicht. Und warum sollen wir nicht? Auf dieses warum weiss ich kein darum. Sollten wohl die Orosmansspieler daran schuld sein? Es waere begreiflich genug, warum sie gern das letzte Wort haben wollten. Erstochen und geklatscht! Man muss Kuenstlern kleine Eitelkeiten verzeihen.

      Bei keiner Nation hat die "Zaire" einen schaerfern Kunstrichter gefunden, als unter den Hollaendern. Friedrich Duim, vielleicht ein Anverwandter des beruehmten Akteurs dieses Namens auf dem Amsterdamer Theater, fand so viel daran auszusetzen, dass er es fuer etwas Kleines hielt, eine bessere zu machen. Er machte auch wirklich eine—andere[2], in der die Bekehrung der Zaire das Hauptwerk ist, und die sich damit endet, dass der Sultan ueber seine Liebe sieget und die christliche Zaire mit aller der Pracht in ihr Vaterland schicket, die ihrer vorgehabten Erhoehung gemaess ist; der alte Lusignan stirbt vor Freuden. Wer ist begierig, mehr davon zu wissen? Der einzige unverzeihliche Fehler eines tragischen Dichters ist dieser, dass er uns kalt laesst; er interessiere uns und mache mit den kleinen mechanischen Regeln, was er will. Die Duime koennen wohl tadeln, aber den Bogen des Ulysses muessen sie nicht selber spannen wollen. Dieses sage ich darum, weil ich nicht gern zurueck, von der misslungenen Verbesserung auf den Ungrund der Kritik geschlossen wissen moechte. Duims Tadel ist in vielen Stuecken ganz gegruendet; besonders hat er die Unschicklichkeiten, deren sich Voltaire in Ansehung des Orts schuldig macht, und das Fehlerhafte in dem nicht genugsam motivierten Auftreten und Abgehen der Personen, sehr wohl angemerkt. Auch ist ihm die Ungereimtheit der sechsten Szene im dritten Akte nicht entgangen. "Orosman", sagt er, "koemmt, Zairen in die Moschee abzuholen; Zaire weigert sich, ohne die geringste Ursache von ihrer Weigerung anzufuehren; sie geht ab, und Orosman bleibt als ein Laffe (als eenen lafhartigen) stehen. Ist das wohl seiner Wuerde gemaess? Reimet sich das wohl mit seinem Charakter? Warum dringt er nicht in Zairen, sich deutlicher zu erklaeren? Warum folgt er ihr nicht in das Seraglio? Durfte er ihr nicht dahin folgen?"—Guter Duim! wenn sich Zaire deutlicher erklaeret haette: wo haetten denn die andern Akte sollen herkommen? Waere nicht die ganze Tragoedie darueber in die Pilze gegangen?—Ganz recht! auch die zweite Szene des dritten Akts ist ebenso abgeschmackt: Orosman koemmt wieder zu Zairen; Zaire geht abermals, ohne die geringste naehere Erklaerung, ab, und Orosman, der gute Schlucker (dien goeden hals), troestet sich desfalls in einer Monologe. Aber, wie gesagt, die Verwickelung oder Ungewissheit musste doch bis zum fuenften Aufzuge hinhalten; und

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