Hamburgische Dramaturgie. Gotthold Ephraim Lessing

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Hamburgische Dramaturgie - Gotthold Ephraim Lessing

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so haengen mehr wichtige Dinge in der Welt an keinem staerkern.

      Die letzterwaehnte Szene ist sonst diejenige, in welcher der Schauspieler, der die Rolle des Orosman hat, seine feinste Kunst in alle dem bescheidenen Glanze zeigen kann, in dem sie nur ein ebenso feiner Kenner zu empfinden faehig ist. Er muss aus einer Gemuetsbewegung in die andere uebergehen, und diesen Uebergang durch das stumme Spiel so natuerlich zu machen wissen, dass der Zuschauer durchaus durch keinen Sprung, sondern durch eine zwar schnelle, aber doch dabei merkliche Gradation mit fortgerissen wird. Erst zeiget sich Orosman in aller seiner Grossmut, willig und geneigt, Zairen zu vergeben, wann ihr Herz bereits eingenommen sein sollte, falls sie nur aufrichtig genug ist, ihm laenger kein Geheimnis davon zu machen. Indem erwacht seine Leidenschaft aufs neue, und er fodert die Aufopferung seines Nebenbuhlers. Er wird zaertlich genug, sie unter dieser Bedingung aller seiner Huld zu versichern. Doch da Zaire auf ihrer Unschuld bestehet, wider die er so offenbar Beweise zu haben glaubet, bemeistert sich seiner nach und nach der aeusserste Unwille. Und so geht er von dem Stolze zur Zaertlichkeit, und von der Zaertlichkeit zur Erbitterung ueber. Alles was Remond de Sainte-Albine in seinem "Schauspieler"[3] hierbei beobachtet wissen will, leistet Herr Ekhof auf eine so vollkommene Art, dass man glauben sollte, er allein koenne das Vorbild des Kunstrichters gewesen sein.

      ——Fussnote

      [1]

       Questo mortale orror che per le vene

       Tutte mi scorre, omai non e dolore,

       Che basti ad appagarti, anima bella.

       Feroce cor, cor dispietato, e misero,

       Paga la pena del delitto orrendo.

       Mani crudeli—oh Dio—Mani, che siete

       Tinte del sangue di si cara donna.

       Voi—voi—dov'e quel ferro? Un' altra volta

       In mezzo al petto—Oime, dov'e quel ferro?

       L'acuta punta—

       Tenebre, e notte

       Si fanno intorno—

       Perche non posso—

       Non posso spargere

       Il sangue tutto?

       Si, si, lo spargo tutto, anima mia,

       Dove sei?—piu non posso—oh Dio! non posso—

       Vorrei—vederti—io manco, io manco, oh Dio!

      [2] "Zaire, bekeerde Turkinne". Treurspel. Amsterdam 1745.

      [3] "Le Comedien", Partie II, chap. X. p. 209.

      ——Fussnote

      Siebzehntes Stueck

       Den 26. Junius 1767

      Den siebzehnten Abend (donnerstags, den 14. Mai) ward der "Sidney", vom

       Gresset, aufgefuehret.

      Dieses Stueck kam im Jahre 1745 zuerst aufs Theater. Ein Lustspiel wider den Selbstmord konnte in Paris kein grosses Glueck machen. Die Franzosen sagten: es waere ein Stueck fuer London. Ich weiss auch nicht; denn die Englaender duerften vielleicht den Sidney ein wenig unenglisch finden; er geht nicht rasch genug zu Werke; er philosophiert, ehe er die Tat begeht, zu viel, und nachdem er sie begangen zu haben glaubt, zu wenig; seine Reue koennte schimpflicher Kleinmut scheinen; ja, sich von einem franzoesischen Bedienten so angefuehrt zu sehen, moechte von manchen fuer eine Beschaemung gehalten werden, die des Haengens allein wuerdig waere.

      Doch so wie das Stueck ist, scheinet es fuer uns Deutsche recht gut zu sein. Wir moegen eine Raserei gern mit ein wenig Philosophie bemaenteln und finden es unserer Ehre eben nicht nachteilig, wenn man uns von einem dummen Streiche zurueckhaelt und das Gestaendnis, falsch philosophiert zu haben, uns abgewinnet. Wir werden daher dem Dumont, ob er gleich ein franzoesischer Prahler ist, so herzlich gut, dass uns die Etikette, welche der Dichter mit ihm beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney nun erfaehrt, dass er durch die Vorsicht desselben dem Tode nicht naeher ist, als der gesundesten einer, so laesst ihn Gresset ausrufen: "Kaum kann ich es glauben—Rosalla!—Hamilton!—und du, dessen gluecklicher Eifer usw." Warum diese Rangordnung? Ist es erlaubt, die Dankbarkeit der Politesse aufzuopfern? Der Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten gehoert das erste Wort, der erste Ausdruck der Freude, so Bedienter, so weit unter seinem Herrn und seines Herrn Freunden er auch immer ist. Wenn ich Schauspieler waere, hier wuerde ich es kuehnlich wagen, zu tun, was der Dichter haette tun sollen. Wenn ich schon, wider seine Vorschrift, nicht das erste Wort an meinen Erretter richten duerfte, so wuerde ich ihm wenigstens den ersten geruehrten Blick zuschicken, mit der ersten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen; und dann wuerde ich mich gegen Rosalien und gegen Hamilton wenden, und wieder auf ihn zurueckkommen. Es sei uns immer angelegener, Menschlichkeit zu zeigen, als Lebensart!

      Herr Ekhof spielt den Sidney so vortrefflich—Es ist ohnstreitig eine von seinen staerksten Rollen. Man kann die enthusiastische Melancholie, das Gefuehl der Fuehllosigkeit, wenn ich so sagen darf, worin die ganze Gemuetsverfassung des Sidney bestehet, schwerlich mit mehr Kunst, mit groesserer Wahrheit ausdruecken. Welcher Reichtum von malenden Gesten, durch die er allgemeinen Betrachtungen gleichsam Figur und Koerper gibt, und seine innersten Empfindungen in sichtbare Gegenstaende verwandelt. Welcher fortreissende Ton der Ueberzeugung!—

      Den Beschluss machte diesen Abend ein Stueck in einem Aufzuge, nach dem Franzoesischen des l'Affichard, unter dem Titel: "Ist er von Familie?" Man erraet gleich, dass ein Narr oder eine Naerrin darin vorkommen muss, der es hauptsaechlich um den alten Adel zu tun ist. Ein junger wohlerzogener Mensch, aber von zweifelhaftem Herkommen, bewirbt sich um die Stieftochter eines Marquis. Die Einwilligung der Mutter haengt von der Aufklaerung dieses Punkts ab. Der junge Mensch hielt sich nur fuer den Pflegesohn eines gewissen buergerlichen Lisanders, aber es findet sich, dass Lisander sein wahrer Vater ist. Nun waere weiter an die Heirat nicht zu denken, wenn nicht Lisander selbst sich nur durch Unfaelle zu dem buergerlichen Stande herablassen muessen. In der Tat ist er von ebenso guter Geburt, als der Marquis; er ist des Marquis Sohn, den jugendliche Ausschweifungen aus dem vaeterlichen Hause vertrieben. Nun will er seinen Sohn brauchen, um sich mit seinem Vater auszusoehnen. Die Aussoehnung gelingt und macht das Stueck gegen das Ende sehr ruehrend. Da also der Hauptton desselben ruehrender, als komisch ist: sollte uns nicht auch der Titel mehr jenes als dieses erwarten lassen? Der Titel ist eine wahre Kleinigkeit; aber dasmal haette ich ihn von dem einzigen laecherlichen Charakter nicht hergenommen; er braucht den Inhalt weder anzuzeigen, noch zu erschoepfen; aber er sollte doch auch nicht irrefuehren. Und dieser tut es ein wenig. Was ist leichter zu aendern, als ein Titel? Die uebrigen Abweichungen des deutschen Verfassers von dem Originale gereichen mehr zum Vorteile des Stuecks und geben ihm das einheimische Ansehen, das fast allen von dem franzoesischen Theater entlehnten Stuecken mangelt.

      Den achtzehnten Abend (freitags, den 15. Mai) ward "Das Gespenst mit der

       Trommel" gespielt.

      Dieses Stueck schreibt sich eigentlich aus dem Englischen des Addison her. Addison hat nur eine Tragoedie und nur eine Komoedie gemacht. Die dramatische Poesie ueberhaupt war sein Fach nicht. Aber ein guter Kopf weiss sich ueberall aus dem Handel zu ziehen; und so haben seine beiden Stuecke, wenn schon nicht die hoechsten Schoenheiten ihrer Gattung, wenigstens andere, die sie noch immer zu sehr schaetzbaren Werken machen. Er suchte sich mit dem einen sowohl als mit dem andern der franzoesischen Regelmaessigkeit mehr zu naehern; aber noch zwanzig Addisons, und diese Regelmaessigkeit wird doch nie nach dem Geschmacke der Englaender werden. Begnuege sich damit, wer keine hoehere Schoenheiten kennet!

      Destouches,

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